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Mädchenerziehung

Die Ausbildung bzw. die Einschulung von Mädchen, die in einigen Ländern zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch umstritten ist, hielt in der Schweiz lange Zeit nicht mit jener der Knaben Schritt. Dies widerspiegelt den langsamen Wandel der Geschlechterrollen in der Gesellschaft.

Mädchenerziehung vor 1800

Gestützt auf karolingisches Recht boten Frauenklöster im Mittelalter adligen Mädchen eine schulische Erziehung an, analog zu den Klosterschulen für Knaben. Ab dem 13. Jahrhundert entwickelten sich in mehreren Schweizer Städten erste Gemeindeschulen. Inwieweit diese auch Mädchen zugänglich waren, ist jedoch nicht bekannt. Hingegen sind ab dem 15. Jahrhundert in fast allen grösseren Städten Privatschulen belegt, an denen eine meistressa d'escola wirkte. Diese Schulen standen vor allem Mädchen aus der Oberschicht offen.

Mädchen an der Arbeit. Stich von Daniel Chodowiecki im Elementarbuch für die Jugend und für ihre Lehrer und Freunde in gesitteten Ständen des deutschen Pädagogen Johann Bernhard Basedow, Altona, 1770 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Mädchen an der Arbeit. Stich von Daniel Chodowiecki im Elementarbuch für die Jugend und für ihre Lehrer und Freunde in gesitteten Ständen des deutschen Pädagogen Johann Bernhard Basedow, Altona, 1770 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Mit der Reformation veränderte sich die Schule grundlegend (Schulwesen, Alphabetisierung). Hauptziel war der Besuch des Religionsunterrichts und der Erwerb der Lesefähigkeit, um wenigstens die Bibel lesen zu können. Daraus ergab sich eine Diskussion über die Rolle der Deutschen Schule, der "gewöhnlichen" Schule, die als einzige den Mädchen offenstand, und über die Notwendigkeit einer Lateinschule für die Elite, welche den Ausbildungsanforderungen von Knaben aus dem städtischen Bürgertum genügen sollte. Auf dem Land erhielten die Mädchen aus dem Volk eine ähnliche Schulbildung wie die Knaben, doch blieb diese für beide Geschlechter rudimentär. Trotz der im 17. Jahrhundert aufkommenden Debatte über die Geschlechtertrennung in der Schule wurden an fast allen Landschulen bis ins 19. Jahrhundert gemischte Klassen beibehalten. Zweifellos hatte die Mädchenerziehung in der Westschweiz, insbesondere in Genf, bis ins 16. Jahrhundert einen höheren Stellenwert als in der Deutschschweiz. Nach Huldrych Zwingli sollten Knaben täglich während vier bis fünf Stunden die Schule besuchen und gleichzeitig einen Beruf erlernen. Mädchen hingegen hatten sich auf den Schulunterricht zu beschränken. Fast überall in der Schweiz wurde die Schule nur im Winter besucht, also jährlich nur während drei bis vier Monaten. Viele Kinder blieben dem Unterricht gänzlich fern. Allerdings konnten Mädchen und Buben nicht nur in der Schule lesen lernen, sondern auch zu Hause, wobei hier vor allem die Mütter eine wichtige Rolle spielten. Dieser wenig bekannte Aspekt erklärt, weshalb die Mädchen im gut untersuchten Kanton Zürich aufzuholen vermochten. Anfang des 17. Jahrhunderts klafften dort die Kenntnisse von Mädchen und Knaben weit auseinander, und noch Ende desselben waren in der männlichen Bevölkerung doppelt so viele Personen des Lesens mächtig wie in der weiblichen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verschwand der Unterschied fast völlig, und je nach Region des Kantons konnten 70-90% der Mädchen lesen. Es ist keineswegs so, dass Mädchen durchwegs benachteiligt waren: Anfang des 18. Jahrhunderts hatten Mädchen und Knaben in 50,5% der 263 untersuchten ländlichen Familien dasselbe Bildungsniveau, in 44,5% der Fälle verfügten die Knaben über eine höhere Bildung (sie konnten auch schreiben, die Mädchen nur lesen), in 5% die Mädchen. Hinsichtlich der Schreibfähigkeit bestanden weiterhin beträchtliche Unterschiede. Über 20% der Männer, aber weniger als 10% der Frauen konnten schreiben.

In katholischen Gebieten lag der Anteil der Mädchen, die zur Schule gingen, meist unter jenem der Knaben. Ende des 18. Jahrhunderts waren im Kanton Zug 38% der Mädchen und 62% der Knaben eingeschult. Ausnahmen stellten diesbezüglich Orte mit einem Ursulinenkloster (Ursulinen) dar. Die Mädchenerziehung hing auch vom Milieu ab. Weil dem Stand grosse Bedeutung beigemessen wurde, wehrte sich das Bürgertum in einigen Städten dagegen, dass Kinder verschiedener sozialer Gruppen in derselben Klasse sassen, und die Forderung nach getrenntem Unterricht wurde laut. Mädchen aus der Bürgerschicht wurden meist von Hauslehrern, in privaten Institutionen oder im Kloster unterrichtet. Bereits im 18. Jahrhundert war für 14- bis 16-Jährige der Aufenthalt in einem anderen Sprachgebiet üblich, wobei sie entweder an einem Austausch teilnahmen oder ein Pensionat besuchten. Dies sollte ihnen Gelegenheit geben, sich mit einer anderen Sprache, Kultur und Lebensart vertraut zu machen.

Mädchenerziehung im 19. und 20. Jahrhundert

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelten die führenden Köpfe der Helvetischen Republik, an deren Spitze Philipp Albert Stapfer stand, ein neues Schulsystem, das insbesondere einen einheitlichen Unterricht für beide Geschlechter vorsah. Die politischen Ereignisse durchkreuzten jedoch diese Pläne. Den Mädchen brachte die Revolution einige Nachteile: Mit der Aufhebung der religiösen Gemeinschaften, die Mädchen aus katholischen Unterschichten den kostenlosen Schulbesuch ermöglicht hatten, verringerten sich deren schulische Ausbildungsmöglichkeiten. Die Unruhen wirkten sich auch auf die Privatschulen aus, die ab den 1770er Jahren für Mädchen aus dem städtischen Bürgertum geschaffen worden waren.

Die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren geprägt von mangelndem Interesse für die Mädchenerziehung. Das Schwergewicht lag auf der schulischen Erziehung der Knaben, weil diese die republikanischen Tugenden in die Gesellschaft tragen sollten. Da die erforderlichen finanziellen Mittel und eine entsprechende Gesetzgebung fehlten, blieb auch die Schulorganisation weiterhin der Willkür überlassen. Der Unterricht hing vom Geschlecht ab, und das Angebot auf dem Land unterschied sich stark von jenem in der Stadt, weil die Dorfschulen von den Gemeinden finanziert wurden. In Gebieten, in denen die Mädchenerziehung wenig galt, war das Schuleintrittsalter für Mädchen höher, das Schuljahr kürzer, ebenso die Gesamtschulzeit. Im Tessin ging Anfang der 1830er Jahre nur jedes siebte Mädchen zur Schule. Erst die allgemeine Schulpflicht, die in einigen Kantonen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts beschlossen und nach 1874 in der ganzen Schweiz durchgesetzt wurde, und die gleichzeitig eingeführte Absenzenkontrolle – Abwesenheit wurde nun streng bestraft –, stellten die Mädchen besser (Primarschule).

Mädchenturnen im Institut St. Ursula in Freiburg. Fotografie von Simon Glasson, 1934 (Musée gruérien, Bulle).
Mädchenturnen im Institut St. Ursula in Freiburg. Fotografie von Simon Glasson, 1934 (Musée gruérien, Bulle).

Die systematische Einführung des eigens auf Mädchen ausgerichteten Unterrichts erfolgte hauptsächlich im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Auffassung, dass Mädchen andere schulische Bedürfnisse hätten als Buben, wurzelt jedoch bereits im 18. Jahrhundert, als in Basel, Chur, Genf und der Waadt der Handarbeitsunterricht den Erwerb der Schreibfähigkeit verdrängte. Mit der Verlängerung der obligatorischen Schulzeit traten die Unterschiede in der Ausbildung von Mädchen und Knaben noch deutlicher hervor. Der Anstieg der Stundenzahl – für Mädchen im Kanton Solothurn betrug er zwischen 1832 und 1873 mehr als 262% – hing mit der Einführung von weiteren Fächern zusammen. Diese wurden im Rahmen des Primarschulunterrichts oder ergänzend erteilt, oder aber an Arbeitsschulen, in denen die Mädchen den Umgang mit Nadel und Faden lernten. Die rasche Zunahme solcher Schulen widerspiegelt das elterliche Interesse. Schliesslich nähten die Töchter dort Kleider und andere Textilien, wofür sie oft sechs oder mehr Stunden pro Woche aufwendeten.

In der Stadt fanden Mädchen wesentlich leichter Zugang zur Sekundarschule als auf dem Land. In den grössten Schweizer Städten entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein System von Mädchenschulen, die den unteren Abteilungen der Kollegien für Knaben entsprachen. In ländlichen Gegenden durften Mädchen erst später den Sekundarschulunterricht besuchen. Die Zulassung zu einer Knabenschule setzte einen Mentalitätswandel voraus. Zudem bedeutete der Besuch der Sekundarschule für Eltern aus der Unterschicht eine schwere finanzielle Belastung. Bei jedem Konjunkturabschwung wurde der Schulbesuch der Mädchen erneut in Frage gestellt, was in den sinkenden Schülerinnenzahlen während der Depression Ende des 19. Jahrhunderts und während jener der 1930er Jahre zum Ausdruck kommt.

Grundprinzip des Unterrichts war, dass die Anregung der intellektuellen Fähigkeiten stets durch praktische Tätigkeiten auszugleichen sei. Häufig traten "Mädchenfächer" an die Stelle von Fächern, die als männlich galten. Ein beträchtlicher Teil der verfügbaren Stunden wurde für Handarbeit, insbesondere das Nähen, eingesetzt. In den 1870er Jahren kamen Inspektoren an den Thurgauer Schulen zum Schluss, dass die längere Präsenzzeit, die der Handarbeitsunterricht mit sich brachte, der Gesundheit der Mädchen schade.

Ende des 19. Jahrhunderts verlangten die Veränderungen der Wirtschaftstrukturen nach einer neuen Berufsbildungspolitik (Berufsbildung) und der Intervention des Bundes (Lehre). Neue Berufsschulen für Knaben wurden eingerichtet, um die Arbeitskräfte mit den neuen Techniken der Industrieproduktion und den modernen Methoden der kaufmännischen Geschäftsführung vertraut zu machen. Dagegen hatte die stets umstrittene Schaffung von Mädchenschulen, die hauptsächlich Haushaltungsschulen waren, oft soziale und ideologische Gründe: Den Mädchen wurden dort die häuslichen Tugenden eingetrichtert und Kenntnisse vermittelt, die für das Führen eines Haushalts nützlich waren und die Möglichkeit boten, in einem herkömmlichen Frauenberuf wie Schneiderin oder Verkäuferin den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Kampf um die offizielle Anerkennung dieser Einrichtungen war langwierig. Ab 1895 subventionierte der Bund den Hauswirtschaftsunterricht (Hauswirtschaft) und die Berufsausbildung der Frauen. Trotz der Schaffung von Handels- und Verkehrsschulen für Mädchen liess die Anerkennung professioneller Fähigkeiten in den Büro- und Handelsberufen auf sich warten. 1900 setzte der Bund gegen den Widerstand des Schweizerischen Kaufmännischen Verbands die Zulassung weiblicher Lehrlinge zu den Prüfungen in diesem Sektor durch. Ungeachtet dieser Öffnung bestand für Mädchen weiterhin nur ein eingeschränktes Angebot von Berufsausbildungen. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen sie noch die Mehrheit in Ausbildungsgängen von kurzer Dauer.

Bildungsdauer 2000
Bildungsdauer 2000 […]
Berufs- und Studienwahl nach Geschlecht (Schuljahr 2001-2002)
Berufs- und Studienwahl nach Geschlecht (Schuljahr 2001-2002) […]

Im Bereich der Mittelschulen (Gymnasium), die der universitären Ausbildung vorangehen (Universität), erhielten Mädchen lange Zeit eine schlechtere Ausbildung als die Absolventen von Kollegien. Einige für den Universitätsbesuch unerlässliche Fächer waren darin nicht enthalten und konnten nur durch Privatunterricht ergänzt werden. Demzufolge kamen die ersten Studentinnen aus dem Ausland (Studenten). Der Frauenanteil an den Universitäten hat erst ab den 1960er Jahren stark zugenommen und ist heute gleich hoch wie jener der männlichen Studenten (Gleichstellung). Allerdings liegt er nur in wenigen Fakultäten bzw. in bestimmten Fächern über jenem der Männer.

Quellen und Literatur

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  • H. Winkler, Schulgesch. der Stadt Winterthur bis zum Jahre 1922, 1947
  • G. Panchaud, Les écoles vaudoises à la fin du régime bernois, 1952
  • M.-L. von Wartburg-Ambühl, Alphabetisierung und Lektüre, 1981
  • E. Flueler, Die Gesch. der Mädchenbildung in der Stadt Basel, 1984
  • U. Blosser, F. Gerster, Töchter der Guten Gesellschaft, 1985
  • F. Hurni, Von Schulen in den Dörfferen, 1986
  • Verflixt und zugenäht! Frauenberufsbildung – Frauenerwerbsarbeit, 1888-1988, hg. von M.-L. Barben, E. Ryter, 1988
  • G. Heller, "Tiens-toi droit!": l'enfant à l'école au 19e siècle, 1988
  • B. Mesmer, Ausgeklammert – Eingeklammert, 1988
  • U. Gyr, Lektion fürs Leben: Welschlandaufenthalte als traditionnelle Bildungs-, Erziehungs- und Übergangsmuster, 1989
  • U. Jecklin, Churer Stadtgesch. 2, 1993, 173-205
  • P. E. Barras, L'école professionnelle et ménagère de jeunes filles de Genève (1897-1927), 1994
  • R. Hofstetter, Le drapeau dans le cartable. Histoire des écoles privées à Genève au 19e siècle, 1994
  • I. Cappelli, C. Manzoni, Dalla canonica all'aula, 1997
  • Gesch. der Erziehung und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jh., 2 Bde., hg. von H. Badertscher, H.-U. Grunder, 1997-98
  • Une école pour la démocratie, hg. von R. Hofstetter et al., 1999
  • A.-L. Head-König, L. Mottu-Weber, Femmes et discriminations en Suisse, 1999
  • P. Caspard, «Les changes linguistiques d'adolescents», in RHN, 2000, 5-85
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Lise Head-König: "Mädchenerziehung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.11.2006, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/048195/2006-11-09/, konsultiert am 29.03.2024.