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Kindesrecht

Der Zweck des Kindesrechts ist es, das Rechtsverhältnis zwischen Kindern und Eltern zu regeln (Familienrecht). Gemäss der modernen Auffassung soll das Kindesrecht das Wohl des Kindes schützen. Das Kindesrecht wurde 1907 im Zivilgesetzbuch (ZGB) verankert.

Die beiden Hauptthemen der Geschichte des Kindesrechts sind die Verrechtlichung der im frühen Mittelalter umfassenden Hausgewalt des Vaters (Hausrecht) und die Überwindung der Rechtlosigkeit des unehelichen Kindes. Aus den Regeln der germanischen Stammesrechte über die Verwaltung des Kindesvermögens beim Tod eines Elternteils entwickelten sich im Hoch- und Spätmittelalter mannigfaltige Formen der Beaufsichtigung und Begrenzung der väterlichen Entscheidungsgewalt. Das zunächst familienlose uneheliche Kind (Illegitimität) erlangte erst gegen Ende des Mitelalters unter kirchlichem Einfluss vereinzelt eine Rechtsbeziehung zu den Eltern. Die Entwicklung verlief unterschiedlich: Noch im 19. Jahrhundert verneinten Ob- und Nidwalden, Luzern und Aargau ein familienrechtliches Band zur Mutter, während Appenzell Innerrhoden und Wallis das aussereheliche Kind in seiner Stellung zum Vater dem ehelichen praktisch gleichstellten. Während die Vaterschaftsklage in jenen Kantonen, die sich nach dem Code Napoléon richteten (Tessin, Waadt und Neuenburg), grundsätzlich unzulässig war, erlaubten Zürich, Luzern, Obwalden, Zug, Solothurn, Schaffhausen, Aargau und Thurgau sie nur gegen Unverheiratete. In Bern, Freiburg und Aargau war die Vaterschaftsklage von einer Anzeige vor der Geburt abhängig, Uri liess sie sogar gegen mehrere Beischläfer zu. Auch das Erbrecht zeigte mancherlei Abstufungen. Je nach Kanton wurde das uneheliche Kind vom Erbe völlig ausgeschlossen oder dem ehelichen Kind gleichgestellt, gegenüber der mütterlichen wie auch der väterlichen Seite. Die Bundesverfassung von 1874 gewährleistete die Religionsmündigkeit ab dem 16. Altersjahr und die Legitimation des unehelichen Kindes durch eine nachfolgende Ehe.

Das ZGB von 1907 stellte zwar wie bisher das eheliche Kindesverhältnis in den Mittelpunkt, brachte aber auch wichtige Neuerungen: Aus der väterlichen wurde die elterliche Gewalt, die wenn auch unter Vorbehalt des väterlichen Stichentscheides beiden Eltern gemeinsam zustand. Den für die Vormundschaft verantwortlichen Behörden wurde aufgetragen, gegen Pflichtwidrigkeit der Eltern einzuschreiten.

Das aussereheliche Kind wurde im Verhältnis zur Mutter einem ehelichen gleichgestellt. Dagegen blieb es im Verhältnis zum Vater stark zurückgesetzt: Zwar hatte es Anspruch auf Unterhaltszahlungen. War der Vater dazu nicht bereit, so konnte die Mutter oder das Kind durch einen Beistand gegen ihn klagen. Zu beweisen war die Beiwohnung des Beklagten; doch musste die Klage bei Mehrverkehr oder unzüchtigem Lebenswandel der Mutter abgewiesen werden. Väterliche Standesfolge war ausgenommen bei Ehebruch oder Inzest durch freiwillige Anerkennung oder unter engen Voraussetzungen (Eheversprechen, Notzucht, Missbrauch) durch Urteil möglich. Das Kind stand unter Vormundschaft, doch konnte stattdessen der Mutter die elterliche Gewalt übertragen werden oder bei Standesfolge dem Vater.

Die Kindesannahme (Adoption) war Kinderlosen ab dem vierzigsten Altersjahr gestattet. Sie hatte nur beschränkte Wirkung und konnte einvernehmlich oder durch Urteil aufgehoben werden. Das Kindesrecht wurde in zwei Etappen erneuert. Die erste von 1972 betraf die Adoption. Ihre Hauptmerkmale waren: Primat des Kindeswohls, Erleichterung der Adoption eines unmündigen Kindes durch ein Ehepaar, Gleichstellung des Adoptivkindes mit einem leiblichen Kind der Adoptiveltern und Unauflöslichkeit der Adoption. 2001 wurden das Recht des Adoptivkindes auf Kenntnis seiner leiblichen Eltern und die internationale Adoption neu geregelt.

Die zweite Etappe von 1976 galt dem übrigen Kindesrecht. Zu den wichtigsten Reformen gehörten die Preisgabe des Dualismus von Ehelichkeit und Ausserehelichkeit und damit die Überwindung der rechtlichen Zurücksetzung des illegitimen Kindes. Weitere Neuerungen waren das Recht des Kindes zur Anfechtung seiner Ehelichkeit, die unbeschränkte Zulassung der Vaterschaftsklage, die Kodifikation der Hauptregeln über das Besuchsrecht und die Unterhaltspflicht. Andere Bestimmungen betreffen die Stellung des Stief- und Pflegekinds, die Anerkennung der Persönlichkeit des Kindes, die Beseitigung des väterlichen Stichentscheids bei verheirateten Eltern und die gesetzliche Zuteilung der elterlichen Gewalt an die unverheiratete Mutter und den Ausbau des Kinderschutzes.

1998 erfuhr das Kindesrecht zwei wichtige Änderungen. Zum einen wurde im Rahmen der ZGB-Revision die bisherige elterliche Gewalt durch eine gemeinsame elterliche Sorge ersetzt, die auch Geschiedenen und Unverheirateten gemeinsam übertragen werden kann. Zudem erhielt das Kind das Recht auf Anhörung und Vertretung bei der Scheidung seiner Eltern. Zum anderen wurde über das sogenannte Fortpflanzungsmedizingesetz die Rechtsstellung des durch medizinisch assistierte Fortpflanzung gezeugten Kindes geregelt. 1997 trat die Schweiz der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes bei.

Quellen und Literatur

  • E. Huber, System und Gesch. des schweiz. Privatrechts 1, 1886; 2, 1888; 4, 1893
  • «L'enfant», in Recueils de la Société Jean Bodin, Bd. 36, 1976
  • C. Soliva, «Zum Kindesrecht in den Stadtrechten der alten Eidgenossenschaft», in Fs. für C. Hegnauer, 1986, 493-503
  • C. Hegnauer, Grundriss des Kindesrechts und des übrigen Verwandtschaftsrechts, 51999
  • C. Hegnauer, «Entwicklungen des schweiz. Familienrechts», in Die Praxis des Familienrechts 1, 2000, 1-23
Weblinks

Zitiervorschlag

Cyril Hegnauer: "Kindesrecht", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.09.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027304/2008-09-02/, konsultiert am 28.03.2024.