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Kolonialismus

Der Begriff K. bezeichnet die Herrschaft einer Minderheit über Menschen einer fremden Kultur. In diesem Sinn handelt es sich um ein universalgeschichtl. Phänomen. Enger gefasst versteht man unter K. die europ. Expansion nach Übersee, die im späten 15. Jh. mit den portugiesischen Seefahrern begann und im Imperialismus vor dem 1. Weltkrieg mit den britischen, französischen und dt. Kolonialreichen ihren Höhepunkt erreichte. Die Hauptphase der Dekolonisation setzte nach dem 2. Weltkrieg ein. Der europ. K. zeichnet sich durch seinen weltumspannenden Charakter, die Dauer und die Wirkungsmacht aus. Er hat den in Westeuropa entstandenen Nationalstaat zur Norm polit. Organisation erhoben, indem er bürgerl. Rechtsvorstellungen zu universalen Menschenrechten und den Kapitalismus zur massgebl. Wirtschaftsform machte. Der K. ist ausserdem eng verbunden mit der christl. Missionierung (Missionen). Im Zusammenhang mit der Entwicklung der sog. Dritten Welt wurde seit den 1960er Jahren Kritik am Eurozentrismus und dem einseitigen Verständnis von Zivilisation der Kolonialmächte und ihren Helfern geübt.

Die Schweiz hat keine Kolonien erworben, doch haben im 18. und 19. Jh. Schweizer Söldner in fremden Diensten in kolonialen Kriegen gekämpft (Afrika). Der Genfer Oberst Louis Henri Fourgeoud half 1763 bei der Niederschlagung von Sklavenaufständen in Holländ. Berbice (Guyana) und Suriname (1773-78). Das Regiment de Meuron wurde 1783 im Dienst der Niederländisch-Ostindischen Kompanie am Kap der Guten Hoffnung stationiert, ehe es auch in Ceylon und Indien zum Einsatz kam. Andere Truppen kämpften 1798 für Napoleon in Ägypten, während die Regimenter von Wattenwyl und von Roll auf engl. Seite im Nildelta im Einsatz waren. Auch an der Landnahme in Nordamerika waren Schweizer Regimenter beteiligt. Nach 1882 liessen sich, trotz inzwischen erlassenem bundesrätl. Verbot, 420 Schweizer für die Europäer-Garde des Khediven Tewfik (ägypt. Vizekönig) in Kairo anwerben. Rund 20 dienten in der Force publique des Kongo-Freistaats, unter ihnen Erwin Federspiel, der nach seiner Heimkehr die koloniale Raubwirtschaft verteidigte. 1907-11 organisierten Schweizer für Frankreich im Auftrag der Konferenz von Algeciras (Spanien) die marokkan. Polizei. Der Thurgauer Christoph Anton Stoffel war erster Kommandant der 1831 gegründeten franz. Fremdenlegion. Sie hatte lange Jahre zwei Schweizer Bataillone und kam v.a. in Kolonialkriegen zum Einsatz.

Gebietserwerb in Übersee und günstige Ressourcen gelten als zentrale Triebkräfte des K. Ebenso versprach der Handel mit Sklaven (Sklaverei), an dem auch Bankiers aus Genf und Basel beteiligt waren, aussergewöhnl. Gewinn. Der Basler Isaac Miville stand einem schwed. Sklavenhandelsfort an der Küste des heutigen Ghana vor. Andere verwalteten oder besassen Plantagen in der Karibik, in Mittelamerika, später auch in Mosambik, in Tanganjika (ab 1964 Tansania), in Belgisch-Kongo (heute Demokrat. Republik Kongo), in Indien und auf Java. Wieder andere versuchten sich als Siedlungsunternehmer (Auswanderung). Der Berner Burger Christoph von Graffenried wurde in Nordamerika zum Landgrafen von Carolina ernannt und gründete 1710 im Küstenhinterland die Siedlung New Bern (Schweizer Kolonien). Insbesondere in der 2. Hälfte des 19. Jh. wanderten Zehntausende auf der Suche nach einem besseren Leben nach Übersee aus, v.a. nach Nordamerika und nach Argentinien, Tessiner und Westschweizer auch nach Nordafrika. Südafrika wurde erst nach dem 2. Weltkrieg zu einem wichtigen Auswanderungsland für die Schweiz.

Predigt des Missionars Fritz Ramseyer vor einer Dorfversammlung an der Goldküste (heute Ghana). Fotografie, um 1890 (Archiv Basler Mission, Basel, QD-30.042.0042).
Predigt des Missionars Fritz Ramseyer vor einer Dorfversammlung an der Goldküste (heute Ghana). Fotografie, um 1890 (Archiv Basler Mission, Basel, QD-30.042.0042). […]

Die Abhängigkeit der Textilindustrie von günstigen Rohstoffen und die Suche nach Märkten jenseits der zollgeschützten Nachbarländer brachten es mit sich, dass auch Schweizer Handelsunternehmen im 19. Jh. in die Kolonien expandierten. Die dortige Wirtschaft wurde häufig ausschliesslich auf die Förderung bestimmter Rohstoffe ausgerichtet. Handelsorganisationen in den Kolonien trugen wesentlich zum Erhalt und der Ausnutzung der abhängigen Gebiete bei. Zahlreiche Schweizer bauten in den Kolonien Handelshäuser auf: Die Brüder Volkart aus Winterthur importierten Nahrungsmittel, Farbstoffe und Baumwolle von Britisch-Indien und exportierten Textilien und Uhren, die Baumwollhändler Jacques und Peter von Planta gründeten 1853 in Alexandria ein Handelshaus, der Winterthurer Paul Reinhart investierte ebenfalls in Spinnereien und Webereien in Ägypten. Der Afrikaforscher Werner Munzinger arbeitete als Kaufmann im ägypt. Massaua. Er wurde zum Gouverneur des ägypt. Ostsudan ernannt, nachdem er für den Khediven zwei Provinzen erobert hatte. Hans Ryff und W. Roth legten in Sierra Leone den Grundstein zur Société commerciale de l'Ouest africain. Am Anfang der Basler Handelsgesellschaft stand die 1859 gegr. Missions-Handlungs-Gesellschaft. Afrika hat 1937 1,8% der Schweizer Exporte aufgenommen, Asien (ohne Japan) 6,1%.

Grosse Bedeutung für die Kolonisierung erlangten schweiz. Missionen, allen voran die 1815 gegründete prot. Basler Mission, die Südafrika-Mission und die Mission philafricaine in Angola. Nachdem bereits in den frühen Jesuitenmissionen in Südamerika Schweizer Patres gewirkt hatten, errichteten Kapuziner später Stationen in Dar es Salaam (Tansania) und auf den Seychellen, Benediktiner in Kamerun und Tanganjika, die Schwestern von Ingenbohl und Menzingen in Indien. Die Missionsgesellschaft Bethlehem aus Immensee (Bethlehem Mission Immensee) etablierte sich in Südrhodesien (heute Simbabwe). Missionare verstanden sich als Glaubensbringer und Sozialreformer. Viele - aber nicht alle - begrüssten den K. als Garanten des Fortschritts und hielten zum antikolonialen Nationalismus in den Drittweltstaaten Distanz.

Der Beitrag der offiziellen Schweiz zur Dekolonisierung nach dem 2. Weltkrieg war gering. So wurde z.B. die Antiapartheidbewegung kaum, auch nicht von den offiziellen Kirchen, unterstützt. Seit den späten 1960er Jahren formierten sich innerhalb der Drittweltbewegung Solidaritätsgruppen, die gegen die Hinterlassenschaften des K. und die Fortsetzung der Abhängigkeit protestierten. Ende des 20. Jh. bezeichneten Kritiker der Globalisierung die Strategien multinationaler Konzerne und der Banken als Neokolonialismus.

Quellen und Literatur

  • F. Fanon, Die Verdammten dieser Erde, 1966 (franz. 1961)
  • L. Schelbert, Einführung in die schweiz. Auswanderungsgesch. der Neuzeit, 1976
  • A. Wirz, Europ. Kolonialherrschaft 1880-1940, 1976
  • H.W. Debrunner, Schweizer im kolonialen Afrika, 1991
  • H.W. Debrunner, «Schweizer Zeugen und Mitbeteiligte bei den Anfängen dt. Kolonisation in Afrika», in Stud. zur Gesch. des dt. K. in Afrika, hg. von P. Hein, U. van der Heyden, 1995, 177-209
  • Traverse, 1998, H. 2
Weblinks

Zitiervorschlag

Rudolf von Albertini; Albert Wirz: "Kolonialismus", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.10.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026457/2008-10-28/, konsultiert am 29.03.2024.