12.3.1867 Kremenez, 7.1.1928 Bern, jüdischer Herkunft, Russe, ab 1917 staatenlos. Statistiker, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Pionier des Arbeiterschutzes.
Nachmann Moische Oiwidow Reichesberg wuchs in der ukrainischen Kleinstadt Kremenez im Südwesten des Russischen Reiches in einer jüdischen Familie auf. Der Vater Moissej Reichesberg war Journalist. Über die Mutter Lïa (oder Fanny?) geborene Barback ist nichts bekannt. Sein Bruder Jovel Reichesberg, der ihm 1892 nach Bern folgte, war der erste Mann von Rosa Grimm. Naum Reichesberg war zweimal verheiratet; beide Ehen blieben kinderlos. Seine erste Frau Ida Tartakowsky heiratete er 1891 in Warschau. 1913 ehelichte er in London Anna Zukier. Nach dem Ende des Zarenreiches 1917 verlor sein russischer Pass seine Gültigkeit und Reichesberg wurde staatenlos. Er beantragte 1922 das Schweizer Bürgerrecht, das ihm aber hauptsächlich aus antisemitischen Motiven verwehrt wurde.
Reichesberg besuchte von 1880 an das Gymnasium in Kiew. 1887 verliess er das Zarenreich, um in Wien Staatswissenschaften zu studieren. Ab Sommer 1890 lebte er in Bern, wo er 1891 an der Juristischen Fakultät mit dem Hauptfach Nationalökonomie promovierte. Nach einem Studienjahr in Berlin lehrte Reichesberg ab Herbst 1892 an der Universität Bern Nationalökonomie (Wirtschaftswissenschaften) und Statistik, zuerst als Privatdozent, ab 1898 als ausserordentlicher und von 1906 bis zu seinem Tod als ordentlicher Professor. 1899-1928 war er Herausgeber der Schweizerischen Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik; die Edition des Handwörterbuchs der Schweizerischen Volkswirtschaft, Socialpolitik und Verwaltung ab 1903 machte ihn einem breiteren Publikum bekannt. Reichesberg prägte den Aufbau der Sozialwissenschaften und insbesondere der Statistik an der Universität Bern; er war als Wissenschafter angesehen und als akademischer Lehrer beliebt. Die Statistik war für ihn die wichtigste Grundlage der entstehenden Gesellschaftswissenschaften und der Sozialpolitik; er kritisierte explizit die eher sozialphilosophisch geprägten Anfänge der Soziologie in der Schweiz. Wiewohl Reichesberg in seiner wissenschaftlichen Lehre stets von der marxistischen Kapitalismusanalyse ausging und nie von den Zielen der Aufhebung der Klassengesellschaft sowie der Vergesellschaftung der Produktionsmittel abrückte, arbeitete er doch eng mit den Kathedersozialisten zusammen und unterstützte deren Reformbestrebungen (Sozialismus). 1915 zählte er zu den Gründern der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft des Kantons Bern, danach nahm er in deren Vorstand Einsitz.
Als Initiator der 1900 gegründeten Schweizerischen Vereinigung zur Förderung des internationalen Arbeiterschutzes, deren Sekretär und Vorstandsmitglied er zeitlebens war, sowie als Delegierter bei der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz (Internationale Arbeitsorganisation, ILO) gelang es Reichesberg, einen Grossteil der politischen und wirtschaftlichen Elite der Schweiz im frühen 20. Jahrhundert für die Bedeutung eines wirksamen Arbeiterschutzes zu sensibilisieren. Dabei nutzte er die internationale Dynamik, die im ausgehenden 19. Jahrhundert im Bereich der Sozialpolitik entstanden war, und fügte sich zugleich in den «Gouvernementalen Internationalismus» (Madeleine Herren) ein, der die multilaterale Kooperation unter den Staaten stärkte und in der Zwischenkriegszeit die internationalen Beziehungen und die schweizerische Aussenpolitik prägte.
Reichesberg lag viel daran, Wissen auch weniger privilegierten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Er hielt regelmässig Vorträge in Arbeiterbildungsinstitutionen und unterstützte viele Mitglieder der russisch-jüdischen Exilgemeinde in Bern, die mehrere Hundert Migrantinnen und Migranten umfasste. Wegen seiner engen Kontakte zur Schweizer Sozialdemokratie und zu russischen Sozialistinnen und Sozialisten beobachtete ihn – angeregt von Diskreditierungsversuchen der russischen Geheimpolizei Ochrana – die politische Polizei zeitweise. Reichesberg starb unerwartet am 7. Januar 1928, vermutlich an den Folgen einer Hirnblutung.