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Grütliverein

Titel der Erstausgabe der Genossenschaftszeitung vom 1. Oktober 1851 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich).
Titel der Erstausgabe der Genossenschaftszeitung vom 1. Oktober 1851 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich).

Der Schweizerische Grütliverein war ein bedeutender patriotischer Verein, der hauptsächlich Handwerksgesellen und im Lauf der Zeit immer mehr Arbeiter an sich band und so – im internationalen Vergleich ohne Parallelen – die Entwicklung der schweizerischen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert beeinflusste, vor allem im Sinn einer sozialen bzw. nationalen Integration. Er wurde 1838 in Genf als Diskussionsverein gegründet. Johannes Niederer prägte den Namen Grütliverein mit der Perspektive, «dass aus dieser Vereinigung von Schweizern ohne Unterschied der Kantone dereinst etwas Grossartiges entstehen kann, wie einst die Schweiz aus dem Grütli hervorgegangen ist». Albert Galeer überhöhte das Selbstverständnis der Grütlianer in seiner programmatischen Schrift «Der moralische Volksbund und die freie Männerschule oder der Grütliverein» (1846). Vom Deutschen Arbeiterverein in Genf (Deutsche Arbeitervereine) übernahm Galeer wesentliche Elemente der Infrastruktur, die den Grütliverein während des 19. Jahrhunderts prägten und für die wandernden Handwerksgesellen in der Fremde attraktiv machten: Lokal, Bibliothek, Zeitungen und Unterricht. Nach dem Motto «Durch Bildung zur Freiheit» diente die Schulung dem Erreichen der Unabhängigkeit als Handwerksmeister und Bürger. Mit patriotischen Zielen verbunden waren Übungen in Gesang, Turnen, Schiessen und Theaterspiel sowie Feste. Die radikal-demokratische Organisationskultur des Grütlivereins kompensierte die Schwierigkeit politischer Betätigung ebenso wie Vereinsinstitutionen (u.a. Reiseunterstützung, Hilfe bei Krankheit, Sektionssparkassen) soziale Benachteiligungen. So erfüllte der Verein in der Fremde die Funktion einer «zweiten Heimat». Die breite Palette an Angeboten dieses polyfunktionalen Vereinstypus verliehen ihm eine im Vergleich mit anderen Arbeiterorganisationen des 19. Jahrhunderts erstaunliche Stabilität. In den Jahren um die Bundesstaatsgründung breitete er sich rasch aus und entwickelte seine spezifischen Mitgliederstruktur, in der die Handwerksgesellen dominierten, die aber auch Handwerksmeister, Angestellte und Beamte, Fabrikarbeiter, Landwirte sowie vereinzelt Kleinunternehmer und Akademiker umfasste. 1851 wies er 34 Sektionen und 1282 Mitglieder auf.

Die Identifikation mit einem starken Zentralstaat entsprach den Interessen der wandernden Handwerksgesellen, die wegen ihrer Mobilität in den Kantonen rechtlich benachteiligt waren. Vereinsverbote scheiterten 1844 in der Stadt Luzern und 1852 im Kanton Bern. Mit der Gründung der sozialistischen Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) 1864 wurde das bis dahin im Grütliverein dominierende Handwerkerselbstverständnis in Frage gestellt. Einen Beitritt zur IAA verwarf er zwar 1868, die «Arbeiterfrage» und die neuen Kampfformen wurden jedoch diskutiert. Vor allem die «Selbsthilfe»-Debatte erhielt Auftrieb: 1872 wurde eine zentralisierte Krankenkasse gegründet, die 1995 in die Visana eingegangene Grütli. Aus der Krise, in welche die Konkurrenz der IAA den Grütliverein gestürzt hatte, rettete ihn die demokratische Bewegung. Mit dem Konzept, die soziale Frage auf dem nationalen Boden der radikal-demokratischen Republik zu lösen, liess sich der sozialutopisch verstandene Rütlischwurmythos des Grütlivereins gegen die «neuen Vögte» aktualisieren. Nach der Bundesverfassungsrevision von 1874 im Sinn der demokratischen Bewegung wurde die politische Orientierung für den Grütliverein endgültig zur Zerreissprobe. Dahinter stand unter anderem das Problem fortschreitender Proletarisierung der Gesellen. Die Klassenharmonie im Verein war bedroht, und der Konflikt entzündete sich an dessen Stellung gegenüber den Arbeiterorganisationen, in denen ausländische Vereine dominierten. Zwar hiess der Grütliverein 1878 das «Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz» gut, lehnte aber den Zusammenschluss mit dem alten Schweizerischen Arbeiterbund zur gemeinsamen Partei ab. Nach enttäuschenden Erfahrungen mit demokratischen, in der Westschweiz mit freisinnigen Partnern wirkten in den 1880er Jahren Grütlisektionen bei der Gründung selbstständiger Arbeiterparteien und Gewerkschaften mit. Die Vereinsführung suchte bis in die 1890er Jahre mit einem sozialreformerischen Programm im Bündnis mit linksbürgerlichen Gruppierungen die politische Führung der Arbeiterbewegung zu übernehmen. Quantitativ erreichte der Grütliverein 1890 seinen Höhepunkt mit 353 Sektionen und 16'391 Mitgliedern. 1901 fusionierte er mit der Sozialdemokratischen Partei (SP), behielt jedoch die selbstständige Organisation bei und wehrte sich gegen die vollständige Integration in die Partei mit dem Austritt 1916. Mit der halbierten Mitgliederzahl fristete der Verein ein Schattendasein, bis er 1925 den Sektionen den Übertritt in die SP empfahl. Das Vereinsorgan «Der Grütlianer» bestand 1851-1925, das französischsprachige «Le Grutli» 1862-1871 und 1888-1943.

Quellen und Literatur

  • Gruner, Arbeiter
  • Gruner, Arbeiterschaft
  • F. Müller, Vom liberal-demokrat. Handwerksgesellen zum sozialdemokrat. Arbeiter, Liz. Zürich, 1980
Weblinks

Zitiervorschlag

Felix Müller (Zürich): "Grütliverein", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 22.12.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017397/2010-12-22/, konsultiert am 28.03.2024.