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Angestelltenorganisationen

Die Entstehung und Entwicklung von Angestelltenorganisationen bezieht sich in vielfacher Weise auf die soziale und berufliche Lage der Angestellten, die Berufsbildung und die Branchenstruktur. Daraus ging die charakteristische Vielfalt von Verbandstypen hervor, durch welche die Angestelltenorganisationen sich von den Gewerkschaften unterscheiden.

In einer ersten Phase (1860-1900) standen gemeinsame Bildungsinteressen unter den organisationsfördernden Momenten im Vordergrund. Ab 1861 bildeten sich Vereine junger Kaufleute, die sich 1873 als Schweizerischer Kaufmännischer Verein (SKV) konstituierten und Weiterbildungskurse für Lehrlinge und junge Angestellte organisierten (Schweizerischer Kaufmännischer Verband, SKV). Ab 1869 schlossen sich die Absolventen des Polytechnikums Zürich (heute ETH) und ab 1884 jene der Technischen Fachschulen in Ehemaligen-Vereinen zusammen, die in erster Linie Geselligkeit und Bildungsinteressen förderten. Einen andersartigen Verbandstyp repräsentierte der 1893 gegründete Werkmeisterverband (SWV, seit 1988 Schweizerische Kader-Organisation), bei dem der gemeinsame Status ― die sozial prekäre Stellung dieser aus der Arbeiterschaft stammenden, aber zu Vorgesetzten aufsteigenden Gruppe ― im Vordergrund stand.

In einer zweiten Phase (1900-1920), gekennzeichnet durch ein starkes Wachstum der Beschäftigtenzahlen, das Aufkommen von Grossbetrieben und die Entfaltung des gewerkschaftlichen Klassenkampfs, steigerten die Angestelltenorganisationen, parallel zu den Gewerkschaften, ihre Mitgliederzahlen kräftig. Arbeitnehmerinteressen und Sozialpolitik (meist als Standespolitik bezeichnet) gewannen an Boden. Aus Vereinen wurden Verbände mit vermehrter Aussenaktivität, die sich in den werdenden Verbandsstaat einfügten. Die massiven Reallohnverluste infolge des Ersten Weltkriegs beschleunigten die Entwicklung. 1917-1921 kam es zu Neugründungen, inneren Krisen und Umorientierungen. Die Angestelltenorganisationen nahmen weitgehend ihre noch heute bestehende Form an. Ältere Verbände, wie der SKV, der SWV oder der 1906 von einigen Ehemaligenvereinen gebildete Schweizerische Technikerverband (STV), erweiterten ihre Tätigkeit in sozialpolitischer Richtung. Ende 1918 kam es erstmals zum Abschluss eines landesweiten Gesamtarbeitsvertrags für Angestellte (sogenannte Berner Übereinkunft), wobei die staatliche Vermittlung zum Auffangen des Linkstrends in den Angestelltenorganisationen ausschlaggebend war. Ebenfalls 1918 wurden die bisher von den traditionellen Angestelltenorganisationen, insbesondere vom SKV, ausgeschlossenen weiblichen Angestellten als Mitglieder zugelassen. Als neuer Typus eines Branchenverbands bildete sich durch Abspaltung vom SKV der Schweizerische Bankpersonalverband (SBPV). In der Grossindustrie und der Versicherungsbranche entstanden Hausverbände, die sich meist sehr stark an die jeweilige Firma anlehnten, gelegentlich aber auch im Zusammenschluss ihren Spielraum zu vergrössern suchten, so namentlich in der Metall-, Maschinen- und Elektroindustrie. Auf dem linken Flügel erlebten Angestelltengewerkschaften eine kurze Konjunktur, wurden aber in den 1920er Jahren wieder weitgehend aufgerieben, was die schweizerische Entwicklung von der bis dahin relativ ähnlichen in Deutschland unterscheidet. Langfristig überlebte von der gewerkschaftlichen Strömung nur eine kleine, dem Verband der Handels-, Transport- und Lebensmittelarbeiter (2005 in der Gewerkschaft Unia aufgegangen) angeschlossene Sektion des Verkaufspersonals. Eine Anlehnung an die Verbände des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) unterblieb sonst. Die Mehrheit der Angestelltenorganisationen markierte 1918 ihre Distanz zur sich radikalisierenden Arbeiterbewegung durch die Gründung der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA). Der vom SKV dominierte Dachverband blieb indes stets schwach; wichtige Verbände gehörten ihm nie an oder traten später wegen der Dominanz des SKV wieder aus, was dessen Gewicht noch weiter stärkte und jeden Ausbau der VSA verhinderte. 1918 kennzeichnete die Gründung der VSA jedoch das gewachsene Bewusstsein berufsübergreifender gemeinsamer Interessen aller Angestellten.

In einer dritten Phase (1920-1950) stabilisierten sich die Angestelltenorganisationen auf dem erreichten Stand. Die Fachschultechniker gaben in den 1920er Jahren die gewerkschaftliche Tendenz preis und konzentrierten sich auf eine quasi-professionalistische Politik, die sich am Vorbild der Hochschulingenieure orientierte. Der SKV verband in typischer Weise berufs- und bildungspolitische mit sozialpolitischen Interessen, scheiterte aber nach dem ersten Gesamtarbeitsvertrag von 1918 mit dem Abschluss weiterer kollektiver Arbeitsverträge. Kämpferischen Druck konnten und mochten die Angestelltenorganisationen nach dem Abklingen der Krisensituation von 1917/1918 nicht einsetzen. Interessenausgleich und Anerkennung der Angestellten als Mitarbeiter sowie ihrer Verbände als Vertragspartner waren die zentralen Ziele der grossen Angestelltenorganisationen, denen sie aufgrund des Widerstands der Arbeitgeber vorerst aber kaum näher kamen. Unter dem Druck der Krise entwickelte sich daher in den 1930er Jahren eine punktuelle Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, namentlich bei der Kriseninitiative von 1935. Erst mit dem sozialpolitischen Aufbruch ab 1945 erfuhren die Angestelltenorganisationen die Anerkennung als Vertragspartner. Ihre Verträge setzten indes, im typischen Unterschied zu jenen der Gewerkschaften, nur einen minimalen Rahmen für die Bedingungen von Lohn und Anstellung. Mehrheitlich blieben diese der Initiative des Einzelnen überlassen, was insbesondere den Interessen der qualifizierten und männlichen Angestellten entsprach, die in den grossen Angestelltenorganisationen den Ton angaben. Dementsprechend existierten unter den Angestelltenorganisationen der Schweiz bis in die Gegenwart, neben stark berufsbezogenen, nur gemässigte Arbeitnehmerinteressen vertretende Strömungen. Die Distanz zur ausgesprochen gewerkschaftlichen Politik blieb gewahrt, da jene Gruppen, die davon Vorteile zu erwarten hatten, kaum organisiert waren oder in den bestehenden Verbänden von besser gestellten Angestellten hegemonisiert wurden.

Mitgliederentwicklung der Angestelltenorganisationen 1900-2005a

VerbandGründung190019201950197519952005
SKV18736 39228 57452 35072 31566 59758 080
SWV/SKO18932 8697 0959 50214 7529 96910 665
STV1905-2 6647 52713 66617 17714 462
VSAM1918-2 5705 65523 14717 98917 650
VSA1918-55 18275 198139 039127 103-
SBPV1918-5 30410 70026 30622 62511 750
SKV: Schweiz. Kaufmänn. Verein;  seit 2001 KV Schweiz 
SWV/SKO: Schweiz. Werkmeisterverband;  seit 1988 Schweiz. Kaderorganisation (SKO) 
STV: Schweiz. Technikerverband;  seit 2002 Swiss Engineering STV 
VSAM: Verband schweiz. Angestelltenvereine der Maschinen- und Elektroindustrie; seit 2006, nach Fusion mit dem Verband schweiz. Angestelltenorganisationen der chem. Industrie VSAC, Angestellte Schweiz 
VSA: Vereinigung schweiz. Angestelltenverbände (Dachverband, dem neben dem SKV von den genannten Verbänden lediglich der SWV/SKO von der Gründung bis 1998 angehörte); aufgelöst Ende 2002 im Vorfeld der Gründung der neuen Dachorganisation Travail.Suisse 
SBPV: Schweiz. Bankpersonalverband 

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Mitgliederentwicklung der Angestelltenorganisationen 1900-2005 -  Autor

Während der Hochkonjunktur der Nachkriegszeit vermochten die Angestelltenorganisationen immer weniger mit der Steigerung der Beschäftigtenzahlen Schritt zu halten. War der Organisationsgrad der Angestellten bis gegen 1950 in etwa gleich hoch wie jener der Arbeiterschaft, so blieb er nun immer mehr zurück. Seit den späten 1970er Jahren haben die meisten Angestelltenorganisationen teilweise massiv an Mitgliedern verloren. Am besten haben sich jene Verbände gehalten, die sich wie der STV ganz auf berufsständische Interessen beschränkten und daher auch der VSA nicht angehörten. Die übrigen Angestelltenorganisationen entfalten heute nur begrenzte Anziehungskraft. Ihre Dienstleistungen im beruflichen Bildungswesen werden vielfach beansprucht, ohne dass eine Mitgliedschaft dafür erforderlich wäre. Die grosse Mehrheit der Angestellten vertraut der individuellen Durchsetzungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt oder hat den Weg zur kollektiven Interessenwahrnehmung trotz sozialer Probleme nie gefunden. Namentlich unter den unteren, angelernten und weiblichen Angestellten sowie beim Verkaufspersonal sind die Angestelltenorganisationen sehr schwach verankert. Neuerdings bemühen sich die Gewerkschaften in bisher nie dagewesener koordinierter Weise um die Organisation von Angestellten, wie etwa im Falle der 1995 gemeinsam von der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) und der Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen (Smuv) gegründeten Dienstleistungsgewerkschaft UNIA (2005 aufgegangen im gleichnamigen Zusammenschluss von GBI, Smuv und VHTL). Seit den 1990er Jahren zeichneten sich mit Fusionen und Namenswechseln grössere Änderungen ab. Der SBPV schloss sich 2001 als assoziiertes Mitglied dem SGB an. Er hat massiv an Mitgliedern verloren. Auch der Dachverband VSA büsste rund ein Drittel seiner Grösse ein. Ende 2000 erklärte der den VSA dominierende SKV seinen Austritt, was Ersterem de facto die Existenzgrundlage entzog. Von den verbleibenden sieben Verbänden fusionierten 2002 drei mit dem Christlichnationalen Gewerkschaftsbund der Schweiz zur Dachorganisation Travail.Suisse. Mit seinem Ausscheiden aus dem VSA wurde der SKV unter dem neuen Namen KV Schweiz zum grössten Einzelverband ausserhalb der beiden Gewerkschaftsbünde. Trotz Erfolgen in der Organisierung weiblicher Angestellter (2005 die Hälfte der Mitglieder) und dem erklärten Ziel, sich als dritte Kraft zu etablieren, hat auch dieser Verband zwischen 1980 und 2007 rund ein Viertel seiner Mitglieder verloren.

Von der Privatwirtschaft abweichende Verhältnisse herrschten bei den Angestellten des öffentlichen Dienstes. Waren die öffentlichen Dienste in der Schweiz lange Zeit schwach organisiert, so wuchs das Bedürfnis nach Organisation, als mit der Verstaatlichung der Eisenbahnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Beschäftigtenzahl kräftig stieg. Die Organisation orientierte sich anfänglich an den Unterschieden zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten, wobei die beiden Letzteren sich stärker an berufsständischen Zielen, die Arbeiter hingegen gewerkschaftlich ausrichteten. Während aber diese Unterscheidung in der Privatwirtschaft weitgehend erhalten blieb, kam es im öffentlichen Dienst zu einer organisatorischen Annäherung, sodass sich auch Angestellte und Beamte zum Teil den Gewerkschaften anschlossen. Bei den Eisenbahnern führte dies 1919 zur Bildung eines Einheitsverbandes (Schweizerischer Eisenbahn- und Verkehrspersonalverband). Ähnliche Bestrebungen bei den Beschäftigten der Post erwiesen sich als unrealisierbar. Als Dachorganisation eigener Art entstand schon 1903 ein Föderativverband eidgenössischer Beamter, Angestellter und Arbeiter, dessen Verbände mehrheitlich beim SGB Anschluss suchten. Seit 1930 gehört ihm auch der Schweizerische Verband des Personals öffentlicher Dienste (VPOD) an, der ursprünglich fast ausschliesslich kommunale und kantonale Arbeiter organisierte, ab den 1920er Jahren aber auch eine seit etwa 1970 kräftig wachsende Minderheit von Angestellten und Beamten (v.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Medien) erfasste.

Die Grösse der staatlichen Betriebe, die einheitliche und detaillierte Regelung der Arbeitsverhältnisse und der Monopolcharakter vieler Berufe schlossen eine Besserstellung durch Stellenwechsel oder durch individuelles Verhandeln aus, was bereits früh einen weit höheren Organisationsgrad der Beschäftigten als bei den Arbeitern und Angestellten der Privatwirtschaft begünstigte. Seit den 1960er Jahren hat der Organisationsgrad allerdings besonders bei den dem SGB angeschlossenen Verbänden abgenommen. Eine Ausnahme bilden die seit Mitte der 1950er Jahre stark wachsenden Bereiche Unterricht, Gesundheit und Sozialwesen, wo die Organisation berufliche Züge trägt. Mit der Verselbstständigung der Bundesbetriebe und dem neuen Bundespersonalrecht begannen sich auch im öffentlichen Sektor Änderungen abzuzeichnen. Der Föderativverband, der auf den Bund als Arbeitgeber ausgerichtet war, löste sich Ende 2002 auf.

Quellen und Literatur

  • M. König et al., Warten und Aufrücken, 1985 (mit Bibl.)
  • R. Fluder et al., Gewerkschaften und Angestelltenverbände in der schweiz. Privatwirtschaft, 1991
  • R. Fluder, Interessenorganisationen und kollektive Arbeitsbeziehungen im öffentl. Dienst der Schweiz, 1996 (mit Bibl.)
  • M. König, «Die Angestellten neben der Arbeiterbewegung», in Sozialgesch. und Arbeiterbewegung, hg. von B. Studer, F. Valloton, 1997, 119-135 (Literaturber. mit Bibl.)
Weblinks

Zitiervorschlag

Mario König: "Angestelltenorganisationen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.04.2009. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016480/2009-04-09/, konsultiert am 29.03.2024.