Turnbewegung

Im deutschen Sprachraum bürgerte sich der von Friedrich Ludwig Jahn geschaffene, vermeintlich auf altdeutsche Wurzeln zurückgehende Ausdruck Turnen als umfassende Bezeichnung für Leibesübungen ein, während im romanischen Sprachgebiet dafür der von griechisch gymnós («nackt») abgeleitete Terminus Gymnastik üblich wurde. Hier ist vom modernen Turnen und der in der Schweiz ab der Restauration verbreiteten Turnbewegung die Rede. Im Zentrum stehen dabei die Verbände und die ideologischen wie politischen Auswirkungen der Turnbewegung, weniger die technisch-erzieherischen (Körpererziehung) und sportlichen Aspekte (Sport).

Die Anfänge (1816-1832)

Kurze Zeit nachdem Jahn 1811 in Deutschland das Turnen eingeführt hatte, das sich auf patriotische Ideale stützte und das deutsche Volk nach der Niederlage im Vierten Koalitionskrieg zu neuem Leben erwecken wollte, entstand auch in der Schweiz eine Turnbewegung. Die gemeinsame Ausführung von Turnübungen, manchmal an Turngeräten wie Barren, Reck, Kletterseil und Pauschenpferd, ging mit einem nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl einher (Nation), das durch Symbole und Rituale wie Lieder, Fahnen, Uniformen und Leitsprüche geweckt werden sollte. Erste, aus Studentenkreisen hervorgegangene Turnergruppen entstanden 1816 in Bern, 1819 in Basel und 1820 in Zürich. Nach 1820 sind Turnaktivitäten in Chur, Aarau, Luzern und Genf bezeugt. Deutsche Emigranten und Bewunderer Jahns, die das Turnen aus politischen Gründen in ihrer Heimat nicht ausüben konnten, trugen zur Verbreitung der Turnbewegung in der Schweiz bei. Diese bot nicht nur die Möglichkeit zu körperlicher Betätigung, sie war auch ein Mittel zur Verbreitung liberaler und nationaler Ideen und hatte daher politischen Charakter (Liberalismus), weshalb sie von reaktionären Denkern und vom konservativen Klerus bekämpft wurde.

Institut Hofwil, Innenansicht der Turnhalle. Lavierte und aquarellierte Federzeichnung von Johannes Leuzinger, 1826 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv).
Institut Hofwil, Innenansicht der Turnhalle. Lavierte und aquarellierte Federzeichnung von Johannes Leuzinger, 1826 (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv). […]

Der Beitrag der Turnbewegung zur Bildung des Bürgersinns im 19. Jahrhundert

Nach 1830 eröffneten die kantonalen Umwälzungen der Turnbewegung, die sich nun freier organisieren konnte, neue Möglichkeiten, und ihre Vorkämpfer verschafften ihren demokratischen Anliegen und nationalen Gefühlen Gehör. Am 23. und 24. April 1832 trafen sich rund 60 Turner aus Zürich, Bern, Luzern, Basel und Baden zu einem Turnwettkampf in Aarau mit der Absicht, einen gesamtschweizerischen Verein zu gründen. Der Anlass wurde Eidgenössisches Turnfest genannt und stellte den Gründungsakt des Eidgenössischen Turnvereins (ETV) dar, dessen erste Statuten 1833 an einer Versammlung in Zürich genehmigt wurden.

Ziel des ETV war es, die Turner und Turnvereine durch Freundschaftsbande und patriotische Gefühle zu vereinen, die nationale körperliche und geistige Erziehung der Schweizer Jugend zu fördern, Turnübungen zu entwickeln und zu pflegen und diese in der Bevölkerung zu verbreiten. Die bis 1874 alljährlich, danach alle zwei bzw. drei Jahre durchgeführten Eidgenössischen Turnfeste waren eigentliche Nationalfeste, die den Bürgersinn förderten (Eidgenössische Feste). Nach 1848 wurde die Turnbewegung zum Sprachrohr demokratischer, fortschrittlicher und laizistischer Werte. Im Turnen sah man einen Beitrag zum Aufbau eines blühenden Landes, das sich dank der politischen und ökonomischen Modernisierung gefestigt hatte.

Plakat für das Eidgenössische Turnfest 1909 in Lausanne, gestaltet von Frédéric Rouge (Musée historique de Lausanne).
Plakat für das Eidgenössische Turnfest 1909 in Lausanne, gestaltet von Frédéric Rouge (Musée historique de Lausanne). […]

Diese Stossrichtung spiegelt sich in der geografischen Verbreitung und soziologischen Zusammensetzung der Turnvereine, die mindestens bis zum Ersten Weltkrieg vor allem in den städtischen, industrialisierten und reformierten Gebieten der Schweiz entstanden. Die grösste Konzentration an Turnern verzeichneten die Kantone Schaffhausen, Zürich, Basel, Neuenburg und Glarus, während die Vereine in den Alpenkantonen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden, Zug, Tessin und Wallis die niedrigsten Mitgliederzahlen aufwiesen. Bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Turner vor allem Studenten; 1882 hingegen machten die Angestellten und Beamten 20%, die Handwerker 17%, Kaufleute und Industrielle 16%, Uhrmacher 14%, Fabrikarbeiter 13%, Freiberufler und Studenten 9%, Bauern 2% und andere 7% aller Mitglieder aus. Gegenüber den Freiberuflern, Industriellen und Arbeitern war die Bauernbevölkerung stark untervertreten. Die Zahl der dem ETV angeschlossenen Vereine stieg von 1850 bis 1900 von 23 auf 543, die Zahl der Mitglieder von 1860 bis 1900 von 1200 auf 39'000.

In Zürich entstand 1893 eine der ersten Frauenturngruppen. 1908 gründeten rund 30 Vereine, die insgesamt über 1000 Turnerinnen vertraten, die Schweizerische Damenturnvereinigung. Diese schloss sich 1925 mit über 250 Vereinen und ca. 7000 Turnerinnen aus rund 15 Kantonen als Unterverband dem ETV an.

Turnen, Sport und Landesverteidigung (1874-1945)

Die patriotische Ausrichtung des Turnens wurde ab 1874 besonders deutlich, als in der ganzen Schweiz das obligatorische Knabenschulturnen eingeführt wurde, das die männliche Jugend in schulpflichtigem Alter auf den Militärdienst vorbereiten sollte (Wehrpflicht). Obwohl zwischen dem Turnen im Verein und dem schulischen Turnunterricht unterschieden wurde, spielte der ETV in der Lehrerausbildung eine wichtige Rolle. Diese Tendenz trat noch deutlicher hervor, als 1907 im neu gegründeten freiwilligen militärischen Vorunterricht das Turnen dem ETV angegliedert wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Turnen, das als moderne Form der eidgenössischen Kriegstugenden betrachtet wurde, vermehrt in den Dienst der Landesverteidigung gestellt. 1940 erreichte diese Militarisierung ihren Höhepunkt, als das Militärdepartement einen Entwurf für einen obligatorischen militärischen Vorunterricht vorlegte. Trotz reger Unterstützung durch die Turn- und Sportverbände wurde diese Vorlage von Volk und Ständen verworfen.

Sektionsturnen auf dem Pferd am Eidgenössischen Turnfest in Zürich. Fotografie von Rob Gnant, 1955 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz.
Sektionsturnen auf dem Pferd am Eidgenössischen Turnfest in Zürich. Fotografie von Rob Gnant, 1955 (Fotostiftung Schweiz, Winterthur) © Fotostiftung Schweiz.

In der Polemik gegen die modernen Sportarten, die nach 1880 als gefährliche Konkurrenten aufkamen, manifestierte sich die patriotische Ausrichtung des Turnens ebenfalls. Gewisse Turnerkreise glaubten, nur das Turnen basiere auf der notwendigen volkserzieherischen und wissenschaftlichen Grundlage, ohne die der Sport als nichtige Leidenschaft mit schlechtem erzieherischem Einfluss zu betrachten sei. Diesen Kontroversen versuchte man entgegenzuwirken, indem man die Turnvereine und die anderen Sportverbände gleichwertig in die Landesverteidigung einbezog.

Das Aufkommen internationaler Wettkämpfe im Kunstturnen, worin die Schweiz in der Zwischenkriegszeit weltweit glänzte, führte 1920 zur Gründung des eidgenössischen Kunstturnverbands, der in technischer und administrativer Zusammenarbeit mit dem ETV Spitzenturner ausbildete und einstufte. Das Wachstum des ETV hielt auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. 1912 zählte er 68'000, 1945 184'000 Mitglieder.

Von der patriotischen Bewegung zum Turnen für jedermann

Ab Ende des 19. Jahrhunderts bekam der ETV die Konkurrenz von Turn- und Sportbewegungen anderer ideologischer Ausrichtung zu spüren, die ebenfalls föderativ strukturiert waren und kantonale sowie eidgenössische Feste organisierten, aber eine grössere Anzahl von Sportarten anboten. 1874 schlossen sich einige innerhalb des Grütlivereins entstandene Turnsektionen zu einem separaten Verband zusammen, welcher der sozialistischen Bewegung nahestand (Sozialismus). Dieser aus polysportiven Vereinen gebildete Verband, in dem jedoch die Turnsektionen überwogen, nahm 1923 den Namen Satus (Schweizerischer Arbeiter-, Turn- und Sportverband) an. Der Satus war in der Deutschschweiz und in den reformierten Westschweizer Kantonen verbreitet, zählte 1925 192 Vereine mit 16'600 Mitgliedern und wuchs bis 1960 auf 425 Vereine mit 38'800 Mitgliedern an. Der Wohlstand der Nachkriegszeit, der die sportliche Betätigung allen Gesellschaftsschichten zugänglich machte, stürzte den Verband in eine tiefe Krise. 1993 wurde nach langen Diskussionen entschieden, jeglichen Bezug auf die sozialistische Ideenwelt fallenzulassen und den Satus als gesellige Freizeitorganisation zu präsentieren, in der Personen jeden Alters Sport treiben konnten. Aus dem nach 1848 entstandenen katholischen Milieu ging 1919 der Schweizerische Katholische Turn- und Sportverband hervor, der sich die Förderung einer vom christlichen Geist durchdrungenen turnerischen und sportlichen Betätigung zum Ziel setzte. In der Westschweiz war dieser katholische Verband gar nicht und im Tessin nur marginal vertreten. 1919 zählte er 23 Sektionen mit rund 1000 Mitgliedern und 1959 313 Sektionen mit insgesamt 33'500 Mitgliedern. Wie der Satus, mit dem er seit den 1970er Jahren gemeinsame Veranstaltungen und Feste organisierte, musste sich auch der katholische Verband neu ausrichten. 2000 wurde der Bezug zur Konfession (Katholizismus) aufgegeben und der Name in Sport Union Schweiz geändert.

Glarner Kantonalturnfest in Linthal, 12. bis 13. Juli 1924. 35-mm-Stummfilm von Willy Leuzinger (Cinémathèque suisse, Filmsammlung Cinema Leuzinger, Signatur 71; Konsultativkopie Memobase ID CS-04_3).
Glarner Kantonalturnfest in Linthal, 12. bis 13. Juli 1924. 35-mm-Stummfilm von Willy Leuzinger (Cinémathèque suisse, Filmsammlung Cinema Leuzinger, Signatur 71; Konsultativkopie Memobase ID CS-04_3). […]

Der bis in die 1960er Jahre vom Patriotismus geprägte ETV passte sich etwas später an die modernen sportlichen und kulturellen Tendenzen an. Die turnerischen Darbietungen, vor allem an den seit 1972 alle sechs Jahre durchgeführten eidgenössischen Festen, verloren ihre frühere militärische Steife und verwandelten sich in choreografische Auftritte, welche die Farben und Klänge der Jugendkultur adaptierten. 1985 schlossen sich der Männer- und Frauenverband zum Schweizerischen Turnverband (STV) zusammen. Unter dem Motto «Turnen für Jedermann» bieten die Mitgliedervereine des STV eine breite Auswahl an Sportaktivitäten und Freizeitbeschäftigungen an, die auf die besonderen Bedürfnisse und Anforderungen der verschiedenen Gruppen von Kindern bis Senioren zugeschnitten sind. Auch die Trendsportarten rhythmische Gymnastik und Aerobic haben im STV Fuss gefasst und seit längerer Zeit werden in den Sektionen des STV andere Sportarten wie Leichtathletik, Volleyball, Handball, Orientierungslauf, Skifahren und Schwimmen ausgeübt. 2011 zählte der STV ca. 385'000 Mitglieder (wovon 152'000 aktive Erwachsene und 140'000 aktive Jugendliche) in 3500 Vereinen und Sektionen.

Quellen und Literatur

  • Niggeler, Johann: Geschichte des Eidgenössischen Turnvereins, 1882.
  • Spühler, Johann; Ritter, Heinrich; Schaechtelin, Arthur: Festschrift zum 75jährigen Jubiläum des Eidgenössischen Turnvereins, 1832-1907, 1907.
  • Burgener, Louis: La Confédération suisse et l'éducation physique de la jeunesse, 2 Bde., 1952 (Neuauflage 1970, Vorwort von Henri Guisan).
  • Schweizerischer Frauenturnverband (Hg.): 75 Jahre Schweizerischer Frauenturnverband, SFTV, 1908-1983, 1983.
  • Sportgeselligkeit, 1998 (Traverse, 5/3).
  • Eichenberger, Lutz: Die eidgenössische Sportkommission 1874-1997. Ein Beitrag zur Sportpolitik des Bundes, 1998.
  • Dossier Sport ouvrier, 2002 (Cahiers d'histoire du mouvement ouvrier, 18).
  • Triet, Maximilian; Schildknecht, Peter (Hg.): Die Eidgenössischen Turnfeste 1832-2002. Streiflichter auf ein nationales Ereignis, 2002.
Von der Redaktion ergänzt
  • Eichenberger, Lutz: Die Eidgenössische Sportkommission, 1998-2011. Chronik der letzten Jahre, 2012.
Weblinks

Zitiervorschlag

Marco Marcacci: "Turnbewegung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.01.2021, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016333/2021-01-15/, konsultiert am 17.04.2024.