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Sexualität

Liebespaar. Einlegearbeit an einem Baldachinbett aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das aus einem der Planta-Häuser in Zuoz stammende Bett wurde 1894 vom Schweizerischen Landesmuseum erworben (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Liebespaar. Einlegearbeit an einem Baldachinbett aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das aus einem der Planta-Häuser in Zuoz stammende Bett wurde 1894 vom Schweizerischen Landesmuseum erworben (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]

Der Begriff Sexualität wird seit Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst zur Bezeichnung des Geschlechts von Pflanzen und schliesslich für die «Gesamtheit der geschlechtlichen Lebensäusserungen» verwendet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde er in die Umgangssprache übernommen. Die Geschichte der Sexualität, historiografisch ein neueres Feld, ist von der Forschung ebenso als Diskursgeschichte wie als Geschichte von Praktiken und Mustern der Geschlechterverhältnisse und Geschlechterbeziehungen untersucht worden (Geschlechtergeschichte). Wurde die Geschichte des Begehrens vor allem im Bereich der literarischen und visuellen Imaginationen thematisiert, so arbeitet die Geschichte der Grenzziehung zwischen Erlaubtem und Verbotenem hauptsächlich mit theologischen, juristischen und medizinischen, aber auch mit (auto)biografischen Quellen. Während zunächst die Frage nach Repression und Befreiung im Vordergrund stand, hat sich die Forschung im Anschluss an Michel Foucault zunehmend mit der Konstruktion von Sexualität, ihrer Regulierung und Diskursivierung beschäftigt.

Diskurse: zwischen Regulierung und Sexualisierung

Titelseite der ersten französischen Ausgabe von Auguste Tissots in Lausanne veröffentlichtem Werk über die Masturbation, 1760 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelseite der ersten französischen Ausgabe von Auguste Tissots in Lausanne veröffentlichtem Werk über die Masturbation, 1760 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Schon im Spätmittelalter lassen sich im Gebiet der Eidgenossenschaft allgemeine Entwicklungen der Geschichte der Sexualität in spezifischer Form konstatieren: Literarische Texte wie Schwänke, Fastnachtsspiele oder auch satirische Lehrgedichte brandmarkten die bäuerliche Sexualität als derb und zotig. Die politischen Gegner diffamierten die Eidgenossen bereits im 15. Jahrhundert als Sodomiten – so wurden sie im Schwabenkrieg als «Kuhschweizer» beschimpft –, und damit als Gefahr für die rechte Ordnung (Zoophilie). In der Reformationszeit wurden Unzucht und Homosexualität zu wichtigen rhetorischen Figuren im Kampf für eine Neuordnung der Gesellschaft. Nichteheliche Sexualität wurde zunehmend kriminalisiert, Reinheit und legitime Sexualität neu im theologischen Ehediskurs und vor den reformierten Ehe- und Sittengerichten verhandelt. Im 18. Jahrhundert folgte mit der Veröffentlichung von L'Onanisme (1760) des Lausanner Arztes Auguste Tissot und seinem Kampf gegen Onanie eine deutliche Verschiebung des Diskurses vom theologischen in den medizinischen Bereich. In der Folge blieben moralische und medizinische Diskussionen prägend und wurden im 20. Jahrhundert noch ergänzt durch die psychologische Thematisierung der Sexualität: Der auch von Johann Heinrich Pestalozzi aufgegriffenen Kindsmorddebatte (Kindesmord) der Aufklärung folgten ab 1875 die Sittlichkeitsbewegung und ihr Kampf gegen Prostitution und Geschlechtskrankheiten. Ab der Wende zum 20. Jahrhundert dominierten die im Kontext von Hygienebewegung (Hygiene) und Sozialdarwinismus bevölkerungspolitisch argumentierende Eugenikdiskussion (Eugenik) und die Debatte über Abtreibung den öffentlichen Diskurs. Die Aufhebungen der Konkubinatsverbote (Konkubinat) auch in der Deutschschweiz und im Wallis ab den 1970er Jahren zeugten von einer neuen Einstellung. Die gleiche Stossrichtung hatten die Entkriminalisierung der Homosexualität – seit 1942 strafrechtlich legal und ab den 1970er Jahren zunehmend entstigmatisiert – und schliesslich die weitgehende rechtliche Gleichstellung von homosexuellen mit heterosexuellen Lebensformen seit 2005.

Neben den stark auf die Errichtung bzw. Aufhebung von Verboten gerichteten Diskussionen gab es Bestrebungen zur positiven Bestimmung von Sexualität, etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die Lebensreformbewegung mit der Freikörperkultur oder ab 1900 die damit verbundenen Reformprojekte auf dem Monte Verità, ferner die neue Sexualwissenschaft mit Auguste Forel (Die sexuelle Frage 1905), ab dem beginnenden 20. Jahrhundert die Psychoanalyse sowie Befreiungsbewegungen wie die Frauenbewegung, die Schwulen- und Lesbenbewegung und die Aufklärungswelle ab den 1960er Jahren. Mit der Einführung der Pille ab 1960 und der damit verbundenen Diskussion um die päpstliche Enzyklika Humanae Vitae (1968) wurde die Sexualität von der Reproduktion entkoppelt. Die Aidskampagnen (Aids) seit den 1990er Jahren, die allgemein zunehmende Sexualisierung in Werbung und Medien und die durch die neuen Medien massiv gesteigerte Pornografiewelle am Ende des 20. Jahrhunderts führten zu einem weiteren diskursiven Schub (Pornografie).

Praktiken: Kontrolle – Befreiung – Integrität

Plakattafeln der Allgemeinen Plakatgesellschaft in Genf. Fotografie von Martial Trezzini, 24. März 2004 © KEYSTONE.
Plakattafeln der Allgemeinen Plakatgesellschaft in Genf. Fotografie von Martial Trezzini, 24. März 2004 © KEYSTONE. […]

Das vom Spätmittelalter an auch in der Schweiz verbreitete sogenannte europäische Heiratsmuster mit relativ später Verheiratung von Männern wie Frauen (Ehe, Ehehindernisse) und die grosse ökonomische Bedeutung von Eheschliessung und Haushaltsgründung für die (Herkunfts-)Familie führten spätestens ab der frühen Neuzeit zu verschiedenen brauchtümlichen Formen der Sozialkontrolle im sexuellen Bereich, etwa dem Kiltgang oder den Knabenschaften, die sexuelle Kontakte durch die Burschen des Dorfs überwachten. Den gleichen Zweck erfüllten Rügebräuche zur öffentlichen Markierung unerwünschter sexueller Beziehungen wie das Charivari. Vom 17. Jahrhundert an lassen sich in städtischen Oberschichten Praktiken der Geburtenregelung nachweisen, hauptsächlich in Genf und Zürich. Nach 1870 nahmen Abtreibungen und die Verbreitung von Verhütungsmitteln deutlich zu, nach 1900 kamen diese nicht zuletzt durch Sexualaufklärungskampagnen auch in Arbeiterquartieren vermehrt zur Anwendung. Im Kontext der Familienplanung etablierte sich ab den 1950er Jahren eine Beraterkultur, später wurden sexuelle Fragen vermehrt im Rahmen von Paarberatungen diskutiert. Weitere in ihren Auswirkungen auf sexuelle Praktiken noch wenig untersuchte wichtige Entwicklungen waren die Entkriminalisierung der Prostitution und die Gründungen von Clubs, Kontaktbörsen und ähnlichen Foren am Ende des 20. Jahrhunderts. In dessen Verlauf führten Sexualreformbewegungen und Strafrechtsreformen zu einer allmählichen Verschiebung der Diskussion in Richtung sexueller Selbstbestimmung und Integrität und damit zu einer wachsenden Bindung von Subjektivität bzw. Identität an das Sexuelle. Typisch hierfür war etwa die neue Frauenbewegung (Frauenbefreiungsbewegung), die ab 1968 die männerdominierte Sexualität in Frage stellte. Schwulen- und Lesbenbewegung veränderten ab den 1970er Jahren die Wahrnehmung wie den Alltag nichtheterosexueller Praktiken, und Ende des 20. Jahrhunderts wurde schliesslich die Trans- und Intersexualität zum Thema. Der sexuelle Missbrauch von Kindern, der während Jahrhunderten toleriert war, wurde Ende des 20. Jahrhunderts vermehrt strafrechtlich verfolgt.

Quellen und Literatur

  • D. Puenzieux, B. Ruckstuhl, Medizin, Moral und Sexualität, 1994
  • C. Ostorero, «Les rapports sociaux de sexes», in Weiblich – männlich, hg. von R. Jaun, B. Studer, 1995, 205-217
  • E. Sutter, «Ein Act des Leichtsinns und der Sünde», 1995
  • R. Wecker, «"Das Dogma". Zur Konstruktion von Geschlecht durch eugenische Massnahmen», in Geschlecht hat Methode, hg. von V. Aegerter et al., 1999, 269-278
  • N. Gerodetti, Modernising Sexualities: Towards a Socio-Historical Understanding of Sexualities in the Swiss Nation, 2005
  • R. Staub et al., Ohne Dings kein Bums: 20 Jahre Aids-Arbeit in der Schweiz, 2005
  • J. de Dardel, Révolution sexuelle et mouvement de libération des femmes à Genève, 2007
  • E. Ostertag, R. Rapp, Es geht um Liebe: Schwule in der Schweiz und ihre Geschichte, 2009
  • Fragen Sie Dr. Sex!, hg. von P.-P. Bänziger et al., 2010
  • S. Burghartz, «Competing logics of public order: matrimony and the fight against illicit sexuality in Germany and Switzerland from the sixteenth to the eighteenth century», in Marriage in Europe, 1400-1800, hg. von S. Seidel-Menchi, 2016, 176-200
Von der Redaktion ergänzt
  • Guzzi-Heeb, Sandro: «Sex, politics, and social change in the eighteenth and the nineteenth centuries. Evidence from the Swiss Alps», in: Journal of Family History, 36/4, 2011, S. 367-386.
  • Guzzi-Heeb, Sandro: Passions alpines: sexualité et pouvoir dans les montagnes suisses (1700-1900), 2014.
  • Guzzi-Heeb, Sandro: «What has the ‹first sexual revolution› to do with kinship transition? ‹Kin marriages› and illicit sexuality in nineteenth-century Alpine Switzerland», in: The History of the Family, 23/3, 2018, S. 388-407.
  • Ruckstuhl, Brigitte; Ryter, Elisabeth: Zwischen Verbot, Befreiung und Optimierung. Sexualität und Reproduktion in der Schweiz seit 1750, 2018.
Weblinks

Zitiervorschlag

Susanna Burghartz: "Sexualität", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.12.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016111/2012-12-18/, konsultiert am 16.04.2024.