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Verkehrspolitik

Die Verkehrspolitik umfasst die Politikbereiche, welche die rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Dimensionen des Verkehrs betreffen, und steht seit dem späten 20. Jahrhundert in engem Zusammenhang mit der Raumordnungspolitik (Raumplanung). Sie beinhaltet gesetzgeberische Aspekte, Fragen der Organisation und Lenkung von Verkehrsnachfrage und Verkehrsangeboten, Infrastrukturen sowie die Finanzierung des Verkehrssystems. Ihre Akteure waren Anfang des 21. Jahrhunderts auf nationaler Ebene vor allem das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) – unter anderem die Bundesämter für Verkehr, Strassen und Zivilluftfahrt –, die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), andere Transportgesellschaften, der Verband öffentlicher Verkehr und verschiedene Automobilverbände.

Kunststrassen- und Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert

Vorformen einer Verkehrspolitik stellten die Strassenbauprogramme einzelner Kantone im 18. Jahrhundert dar (z.B. Bern). Mit dem weiteren Ausbau des Strassennetzes (Strassen) ab den 1830er sowie mit dem Eisenbahnbau (Eisenbahnen) ab den 1850er Jahren bildete sich dann eine über kommunale und kantonale Entscheidungen hinausgehende Verkehrspolitik heraus; Eisenbahn- und Strassenbau stellten fortan deren Hauptfelder dar. Eine Koordination der jeweiligen verkehrspolitischen Entscheide kam bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zustande; die Verkehrspolitik entwickelte sich sektoriell mit je eigener Gesetzgebung, Finanzierung und Planung für die verschiedenen Verkehrsträger (Transportmittel).

Der Kunststrassenbau bedingte die Regelung von Bau, Unterhalt und Finanzierung sowie die Durchsetzung von Benützungsvorschriften und führte in den meisten Kantonen zum Erlass neuer Strassengesetze. Für überregionale Strassen waren hauptsächlich die Kantone verantwortlich, für lokale die Gemeinden. Die Verfassung von 1848 übertrug dem Bund die Oberaufsicht über Strassen und Brücken von nationaler Bedeutung und brachte die Abschaffung aller Strassen- und Brückenzölle. Kantons- und Wirtschaftsvertreter sorgten im Parlament jedoch dafür, dass Strassen- und Eisenbahnbau weitgehend in der Kompetenz der Kantone blieben. Die verkehrspolitische Rolle des Bundes beschränkte sich daher auf die Möglichkeit zur finanziellen Unterstützung von Strassen- oder Eisenbahnprojekten sowie den Unterhalt der Pferdepost. Dem Bund oblag aber der Abschluss entsprechender Abkommen mit dem Ausland; er handelte beispielsweise 1869-1870 mit Italien und Deutschland den Vertrag über den Bau der Gotthardbahn aus. 1872 trat ein neues Eisenbahngesetz in Kraft, das die Konzessionshoheit für Eisenbahnen dem Bund übertrug und ihn ermächtigte, Grundsätze über Bau, Betrieb, Fahrpläne und Tarife aufzustellen. 1898 bewilligte das Volk den Rückkauf der fünf grössten Bahnen. Die daraus entstandenen SBB machten den Bund zum wichtigsten Akteur im Eisenbahnsektor.

Verkehrspolitische Dominanz der Strasse

Aufgrund des Eisenbahnbaus wurde die Schifffahrt für den Personen- und Güterfernverkehr nebensächlich. Die Strassen blieben lokal sowie als Zubringer zur Bahn wichtig und gewannen mit dem Aufkommen von Motorfahrzeugen ab 1900 weiter an Bedeutung (Automobil). Ein Konkordat hielt 1904 erstmals Regeln für den Strassenverkehr fest. Eine gesamtschweizerische Regelung des Strassenverkehrs wurde 1932 mit dem ersten Bundesgesetz über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr erreicht.

Der Bund unterstützte die Kantone bei der Modernisierung ihrer Strassennetze, indem er ihnen ab 1928 einen Teil der Treibstoffzolleinnahmen zukommen liess. Die Zweckbindung grosser Teile der Treibstoffzollerträge zugunsten des Strassenbaus und die schnell voranschreitende Motorisierung führten zu einem sich selbst verstärkenden Finanzierungskreislauf, der umso mehr Mittel für den Strassenbau bereitstellte, je höher die Zahl der Motorfahrzeuge stieg. Dies bewirkte, dass für den Bau von Haupt- und Nationalstrassen grosse Summen zur Verfügung standen, während die Gelder für den öffentlichen Verkehr nicht in vergleichbarem Ausmass flossen.

Luft- und Schifffahrtspolitik

1920 übernahm der Bund die Luftfahrt in seinen Aufgabenbereich; seit 1950 übt er die Aufsicht über die Schweizer Luftfahrt aus, namentlich die Konzessionierung von Fluggesellschaften sowie die Luftraumüberwachung. Bau und Betrieb der Flughäfen überliess er den Standortkantonen und privaten Unternehmen, er beteiligte sich aber an den Kosten der Landesflughäfen Zürich-Kloten, Genf-Cointrin und Basel-Mulhouse. Nach der Ablehnung des EWR-Beitritts (1992) war das wichtigste Ziel der schweizerischen Luftfahrtpolitik die Sicherung von Landerechten und des freien Marktzugangs für die schweizerischen Luftfahrtunternehmen in der EU.

Die schweizerischen Schifffahrtsunternehmen unterstehen seit 1919 der Konzessionierungshoheit des Bundes, wobei zu Beginn des 21. Jahrhunderts einzig die Gütertransporte auf dem Rhein bis Basel sowie die touristische Schifffahrt von wirtschaftlicher Bedeutung sind. Der Bund leistet Beiträge an die Rheinhäfen und unterstützt die Schifffahrt durch die Unterzeichnung internationaler Abkommen. Er überwacht durch das im EDA angesiedelte Schweizerische Seeschifffahrtsamt die Hochseeschifffahrt und fördert den Kauf von Hochseeschiffen durch die Übernahme von Bürgschaften für schweizerische Reedereien.

Ansätze einer umfassenden Verkehrspolitik

Die Wirtschaftskrise und die Konkurrenz zwischen Autotransportgewerbe und Bahnen führten 1935 zu einem ersten erfolglosen Versuch, den Güterverkehr auf Schiene und Strasse gesetzlich zu koordinieren: Der Fernverkehr sollte der Bahn, der Nahverkehr der Strasse zugewiesen werden. Die von 1938 bis 1951 gültige Autotransportordnung verfolgte ein ähnliches Ziel; ihre Überführung in ein Gesetz scheiterte jedoch an der Urne ebenso wie der Versuch, die Regelung und Koordination aller Verkehrsmittel durch den Bund in der Verfassung zu verankern (1946).

Da sie dem steigenden Verkehr nicht mehr gewachsen waren, gaben die Städte Basel, Bern und Zürich zwischen 1950 und 1965 Gesamtverkehrsplanungen in Auftrag. Ab Mitte der 1960er Jahre etablierten sich Gesamtverkehrskonzepte zunehmend als Instrument der Verkehrspolitik auch auf Kantons- und Regionalebene. Der umfassendste Planungsansatz wurde vom Bund mit der Gesamtverkehrskonzeption Schweiz (GVK-CH, Schlussbericht 1977) verfolgt, die eine Koordination aller Teilbereiche der Verkehrspolitik untereinander und mit Politikbereichen wie der Raumplanung, der Wirtschafts- oder der Energiepolitik ermöglichen sollte. Unter der Bezeichnung «Koordinierte Verkehrspolitik» legte der Bundesrat schliesslich eine modifizierte Vorlage vor, die das Volk 1988 verwarf.

Neuausrichtung und Koordination mit Europa

"Und wenn der Gütertransitverkehr den Zug nehmen würde? Für ein europäisches Verkehrssystem von Morgen, sagen Sie am 20. Februar: Ja!" Plakat für die eidgenössische Volksabstimmung zum Schutz des Alpengebiets vor dem Transitverkehr, gestaltet von der Grafikerin Christina Borer (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
"Und wenn der Gütertransitverkehr den Zug nehmen würde? Für ein europäisches Verkehrssystem von Morgen, sagen Sie am 20. Februar: Ja!" Plakat für die eidgenössische Volksabstimmung zum Schutz des Alpengebiets vor dem Transitverkehr, gestaltet von der Grafikerin Christina Borer (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Trotz der Ablehnung des Verfassungsartikels flossen zahlreiche Ideen aus dem Konzept in die Verkehrspolitik des Bundes ein, so etwa die Schwerverkehrsabgabe oder die Erweiterung des Verwendungszwecks der Treibstoffzollgelder auf Folgekosten des Strassenverkehrs. Auch schienenbezogene Vorhaben wurden umgesetzt, unter anderem der Ausbau der Bahn-Infrastrukturen (Bahn 2000) sowie die unternehmerische Neugestaltung der SBB. 1982 und 1987 erteilte der Bund der SBB mehrjährige Leistungsaufträge und garantierte, nicht kostendeckende gemeinwirtschaftliche Leistungen der SBB abzugelten.

Die stärkere Gewichtung von Umweltanliegen und der politische und wirtschaftliche Integrationsprozess innerhalb der EU führten zu einer Neuausrichtung der schweizerischen Verkehrspolitik. 1992 nahm das Volk den Bundesbeschluss über den Bau der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) an, der die Erstellung der Eisenbahn-Basistunnels am Gotthard und am Lötschberg ermöglichte, 1994 stimmte es der Alpeninitiative zu und verankerte damit die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene in der Verfassung. Die Finanzierung erfolgt grösstenteils über den Fonds zur Finanzierung von Infrastrukturvorhaben des öffentlichen Verkehrs (FinöV), der 1998 beschlossen wurde und sich aus Erträgen der Mehrwert- und der Mineralölsteuer sowie Darlehen des Bundes speist. 2001 trat das Verkehrsverlagerungsgesetz in Kraft, das konkrete Verlagerungsziele fixiert; seit diesem Jahr erhebt die Schweiz anstelle der pauschalen eine leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe.

Die ökologische Neuausrichtung der Schweizer Verkehrspolitik stand zum Teil im Widerspruch zur liberalisierten Verkehrspolitik der EU. Im Rahmen der bilateralen Abkommen handelte der Bundesrat deshalb ein Landverkehrsabkommen aus, in dem die EU die schweizerische Verlagerungspolitik akzeptierte. Die Schweiz entsprach im Gegenzug den Forderungen der EU nach einer weitgehenden Marktöffnung im Verkehrsbereich. Bezüglich des Strassenverkehrs bedeutete dies die Anhebung der Gewichtslimite für Lastwagen von 28 auf 40 t in der Schweiz bis 2005 sowie den erweiterten gegenseitigen Marktzugang für Transport- und Logistikunternehmen. Die Änderungen, die das 2002 in Kraft getretene Abkommen im Schienenbereich vorsah, waren schon im Rahmen der ersten Etappe der Bahnreform umgesetzt worden; seit 1999 geniessen schweizerische und europäische Bahnunternehmen im Güterverkehr freien Zugang zum schweizerischen Schienennetz. Voraussetzung für diesen Schritt war die fortgeführte Neuorganisation der SBB (u.a. 1996 Revision des Eisenbahngesetzes). Das Grossprojekt Zukünftige Entwicklung Bahninfrastruktur (ZEB) sieht den Ausbau der Schienenkapazitäten vor. Das entsprechende Bundesgesetz über die zukünftige Entwicklung der Bahninfrastruktur (ZEBG) ist seit 2009 in Kraft.

Quellen und Literatur

  • C. Kaspar, Die schweiz. Verkehrspolitik im Rückblick, 1976
  • U. Klöti, «Verkehr, Energie und Umwelt», in Hb. Polit. System der Schweiz 4, hg. von G. Schmid, 1993, 225-300
  • 20 Jahre Gesamtverkehrskonzeption – wie weiter?, hg. von F. Walter, 1998
  • H.-U. Berger et al., Verkehrspolit. Entwicklungspfade in der Schweiz, 2009
Weblinks

Zitiervorschlag

Stefan Sandmeier: "Verkehrspolitik", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.11.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013793/2013-11-19/, konsultiert am 28.03.2024.