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Kunsthandwerk

Der Begriff Kunsthandwerk wird oft als Synonym für Kunstgewerbe verwendet, einem im 19. Jahrhundert entstandenen Terminus. Das traditionelle Kunsthandwerk umfasst unter künstlerischen Aspekten hergestellte Gebrauchsgegenstände, deren Funktion, Form und Material gleichermassen zur Beschaffenheit eines schönen, zuweilen einzigartigen Gegenstands beitragen. Dabei werden verschiedene handwerkliche Techniken angewendet (u.a. Bijouterie, Glasmalerei, Gold- und Silberschmiedekunst, Metallverarbeitende Handwerke, Textilkunst, Ofenbau). Unter dem verwandten Begriff angewandte Kunst wird neben der handwerklichen auch die maschinelle und industrielle Herstellung solcher Produkte verstanden.

Der mit dem Kunsthandwerk verbundene künstlerische Gestaltungswille ist Ausdruck einer Gegenreaktion auf die Industriekultur des 19. Jahrhunderts. Kunsthandwerkliche Gegenstände müssen einerseits Erfordernisse hinsichtlich Form, Ausführung und Ornamentik erfüllen, andererseits als Gesamtes funktional sein. In der Ornamentik lässt sich ein bestimmter Stil erkennen, der die ästhetischen Vorlieben des Zielpublikums widerspiegelt, aber auch die normativen Regeln, die allmählich den «guten Geschmack» formen und eine entsprechend hochwertige Produktion hervorbringen sollen.

Das Kunsthandwerk wird hier weder anhand seiner Erzeugnisse noch aufgrund deren anthropologischen und ethnologischen Funktion dargestellt, sondern als Ausdruck einer schrittweisen Entstehung der Schweiz. Zwei Gesichtspunkte werden dabei ins Auge gefasst, einerseits der ausländische Einfluss und dessen Ausprägung im Inland, andererseits der Fortbestand oder die Wiederbelebung des einheimischen Ornamentenbestands. Der ausländische Einfluss zeigte sich meist in der Übernahme eines Stils, konnte aber auch von zugezogenen Künstlern ausgehen. In den regionalen oder örtlichen Besonderheiten des Kunsthandwerks manifestieren sich zugleich die bürgerliche Kultur des Landes und die dahinter verborgene Volkskunst. Zudem zeigt sich darin die Wirkung der grossen französischen, deutschen und italienischen Schulen, deren spezifische Merkmale lange vor dem 18. Jahrhundert einflossen.

Von einem unbekannten Kunsthandwerker bemalte Hausorgel aus Schwellbrunn, datiert auf das Jahr 1811 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Von einem unbekannten Kunsthandwerker bemalte Hausorgel aus Schwellbrunn, datiert auf das Jahr 1811 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich). […]

Kennzeichnend für das 18. Jahrhundert ist das Weiterbestehen des Renaissance- und Barockstils im deutschsprachigen Teil des Landes und der rasche Vormarsch des französischen Geschmacks in der Westschweiz. Möbel und Ziergegenstände widerspiegelten sehr oft die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage der städtischen Gemeinden. In grossen Städten, in denen Zünfte (Zürich), Patriziat (Bern) oder Kaufleute (Basel und Genf) den Ton angaben, bildete sich eine Kundschaft mit eigenem Geschmack, die mit ihren Bestellungen einen bestimmten Stil förderte. Die mit den Aufträgen betrauten Handwerksmeister übten ihrerseits einen nachhaltigen Einfluss auf die umliegenden Werkstätten aus. Manche, wie die Berner Kunsttischler Funk, exportierten sogar ins Ausland. Allerdings waren solche Einflüsse eher gering, sodass sich ein bestimmter Geschmack in den verschiedenen Bevölkerungsschichten nur langsam und ungleichmässig ausbreitete. Hingegen konnte die Entwicklung auch in Schüben verlaufen: Oft hatte das Verhalten eines geschmackssicheren Mäzens einen entscheidenden Einfluss auf die Produktion in einer Stadt oder in einer Gegend. So waren etwa die Werke des Monogrammisten HS (Möbel, getäfelte Decken) in Graubünden und in der Ostschweiz des 16. Jahrhunderts stark verbreitet. Als Offiziere in fremden Diensten moderne Möbel (Sekretäre, Beistell- und Konsolentische aus Paris) in die Schweiz importierten, eröffnete dies neue Gestaltungsmöglichkeiten, die von den Handwerkern übernommen wurden wie die höfische Formensprache. Um 1700 begann beispielsweise die Herstellung von Kommoden im lombardischen Stil, und Ende des 18. Jahrhunderts gab es in Zürich (Schooren) und Nyon Porzellanfabriken, die den grossen europäischen Manufakturen in nichts nachstanden (Keramik). Dasselbe Phänomen zeigt sich bei Glas- und Silberwaren, Kunstschmiedearbeiten, Kleidermode usw. Obwohl sich diese von den Städten ausgehenden Entwicklungen in ländlichen Gegenden häufig langsamer vollzogen und manche Neuheiten sich erst mit Verspätung durchsetzten, waren hochmoderne Gegenstände nicht selten auch in bescheidensten Heimstätten anzutreffen.

Die in der Renaissance einsetzende Auflösung der Zünfte hatte zur Folge, dass das Kunsthandwerk eine Zeit lang als zweitrangige künstlerische Tätigkeit galt. In der Romantik schloss das Interesse für die Vergangenheit auch das Kunsthandwerk mit ein. Der eklektische Historismus kam in Mode und entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Vielzahl von vorzugsweise «nationalen» Stilen. Erst mit dem Aufkommen des industriellen Designs wurde die Trennung von bildender Kunst und Kunsthandwerk allmählich aufgeweicht. Zahlreiche Weltausstellungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts priesen die Mechanisierungsprozesse, die Handwerk und Industrie versöhnen sollten, und trieben die Entstehung nationaler Schulen (z.B. Thuner Majolika) voran, indem sie die Erforschung alter Techniken förderten. Ausserdem entstanden im 19. Jahrhundert Kunstgewerbemuseen, in denen die aus verschiedenen Epochen stammenden Erzeugnisse menschlichen Einfallsreichtums ausgestellt wurden. In deren Umkreis bildeten sich Kunstschulen wie 1874 die Kunstgewerbeschule Winterthur.

Einige Kunsttheoretiker traten für ein hochwertiges Schweizer Handwerk ein, womit sie dem Kunsthandwerk zumindest anfänglich eher schadeten. Sie vermochten sich der Alpenidylle der Bauern, die gleichzeitig Künstler waren, nicht zu entziehen und konnten daher Volkskunst und Kunsthandwerk begrifflich kaum unterscheiden. Das beste Beispiel für diese Vermischung ist die Wohnungseinrichtung der Berner Oberländer Familie Trauffer. In diesem Interieur vereinigten sich auf ungewöhnliche Art und Weise Elemente der Volkskunst, die der alpinen Sagenwelt (Bären, Waldvögel usw.) entnommen waren, mit den ästhetischen Massstäben einer internationalen Kundschaft, welche hohe Beachtung fanden. Diese Einrichtung, die an mehreren Weltausstellungen als rustikal beurteilt wurde, entsprach kaum dem damals vorherrschenden Geschmack. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts musste das Schweizer Kunsthandwerk offenbar dem romantischen Bild der Alpen Folge leisten und damit dem eklektizistischen Geschmack einer Kundschaft, die noch in den Erinnerungen an die Grand Tour schwelgte, Rechnung tragen. Andererseits trugen auch die neu gegründeten Kunstgewerbemuseen ihren Teil zur Verwirrung bei: Kunstgegenstand und Industrieprodukt liessen sich häufig schwer unterscheiden, wie etwa die ersten Sammlungen des Lausanner Industriemuseums 1862 zeigen. Dementsprechend wurde das Kunsthandwerk zuweilen unwillkürlich als blosses Handwerk eingestuft (z.B. Sammlung von Heinrich Angst im Landesmuseum).

Plakat zur Nationalen Ausstellung angewandter Kunst, 1922 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat zur Nationalen Ausstellung angewandter Kunst, 1922 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]
Nationale Ausstellung für freie und angewandte Kunst im Palais des expositions in Genf, 1931. Ausstellungsplakat von Jean-Jacques Mennet (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Nationale Ausstellung für freie und angewandte Kunst im Palais des expositions in Genf, 1931. Ausstellungsplakat von Jean-Jacques Mennet (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Der Unterricht Gottfried Sempers am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich (1855-1870), wo dieser zur qualitativen Verbesserung der Industrieproduktion aufrief, trug wesentlich zur Reform des Kunsthandwerks bei. Um die Wende zum 20. Jahrhundert gab es Vorstösse aus verschiedenen Richtungen, die schliesslich zur Aufhebung der Grenze zwischen Kunsthandwerk und bildender Kunst führten. Der französische Jugendstil, die Wiener Sezession und die englische Arts-and-Crafts-Bewegung fanden Anklang, was die Gründung des Schweizerischen Werkbundes und seines Pendants in der Westschweiz (L'Œuvre) nach sich zog und dem Funktionalismus den Weg bereitete. Im Heimatwerk, das 1930 ins Leben gerufen wurde, scheint wohl heute noch ein nationalistischer Ansatz durch, der während des Zweiten Weltkriegs im sogenannten Landistil (Heimatstil) zum Ausdruck kam. Trotz der vermeintlichen Krise des Kunsthandwerks zeichneten sich vielversprechende neue Richtungen ab.

Quellen und Literatur

  • Kdm
  • Trésors de l'artisanat en Suisse romande, hg. von U. Claren, 1979
  • P. Erni, Die gute Form, 1983
  • AH 8; 11
  • The Journal of Decorative and Propaganda Arts 19, 1993 (Swiss Theme Issue)
  • Made in Switzerland, Ausstellungskat. Lausanne, 1997
  • Fonction - Fiction, Ausstellungskat. Neuenburg, 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

Pierre-Alain Mariaux: "Kunsthandwerk", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.11.2007, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011173/2007-11-05/, konsultiert am 28.03.2024.