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Ausnahmeartikel

Als Ausnahmeartikel der Bundesverfassung (auch konfessionelle Ausnahmeartikel genannt) gelten diejenigen Verfassungsnormen, welche die Glaubens- und Gewissensfreiheit einseitig einschränken. Als Ausfluss der konfessionellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts richteten sie sich vor allem gegen die katholische Kirche, aber mit dem 1893 eingeführten Schächtverbot auch gegen das Judentum. Bereits die Verfassung von 1848 verbot den Jesuiten und den "affiliierten Gesellschaften" jedes Wirken in Staat und Kirche. Im Kulturkampf wurden die Ausnahmeartikel in der Bundesverfassung von 1874 verschärft: Artikel 51 präzisierte das Jesuitenverbot, Artikel 52 verbot die Errichtung neuer oder die Wiederherstellung aufgehobener Klöster, Artikel 50 Absatz 4 unterstellte die Errichtung von Bistümern der Genehmigung durch den Bund und Artikel 75 schloss Schweizer Bürger geistlichen Standes (auch ordinierte reformierte Pfarrer) von der Wahl in den Nationalrat aus. Die Schöpfer der Ausnahmeartikel wie auch deren spätere Verteidiger wie Fritz Fleiner und Zaccaria Giacometti rechtfertigten diese als Massnahmen zum Schutz des Religionsfriedens. Die Mehrheit der Schweizer Katholiken empfand die Ausnahmeartikel als Diskriminierung, die aber der Legitimierung des politischen Katholizismus dienten. 1919 verlangte der katholisch-konservative Nationalrat Jean-Marie Musy vergeblich in einer – erst 1947 abgeschriebenen – Motion die Aufhebung der Ausnahmeartikel. Im 20. Jahrhundert wurden die Ausnahmeartikel (v.a. der Jesuitenartikel) extensiv ausgelegt und Neugründungen von Klöstern wurden unter anderer Rechtsform (z.B. als Priorat wie Hauterive) toleriert. Nach 1950 anerkannten auch nichtkatholische Staatsrechtler, dass die Artikel 51 und 52 "unhaltbar" (Werner Kägi) und "diskriminierend" (Jean-François Aubert) seien. Die Motion Ludwig von Moos (1954) führte zur Volksabstimmung vom 20. Mai 1973, in welcher diese beiden Ausnahmeartikel ersatzlos gestrichen wurden. Die Motion Alfred Ackermann von 1962 zur Streichung des Bistumsartikel hatte dagegen keinen Erfolg. Die Bundesverfassung 1999 hob das Wahlverbot für Geistliche auf, beliess aber gegen den Widerstand katholischer Kreise den Bistumsartikel (Artikel 72 Absatz 3), der am 10. Juni 2001 schliesslich als letzter Ausnahmeartikel von Volk und Ständen aufgehoben wurde.

Quellen und Literatur

  • W. Kägi, Gutachten zum Jesuiten- und Klosterartikel, 1973
  • J.-F. Aubert, Bundesstaatsrecht der Schweiz, 2 Bde., 1991-94, (franz. 1967-82)
  • W. Gut, Der Staat und die Errichtung von Bistümern, 1997
Weblinks

Zitiervorschlag

Marco Jorio: "Ausnahmeartikel", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.07.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010388/2008-07-28/, konsultiert am 29.03.2024.