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Räte

Der Kleine Rat der Stadt Luzern. Erste Illustration aus der Luzerner Chronik des Diebold Schilling, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Der Kleine Rat der Stadt Luzern. Erste Illustration aus der Luzerner Chronik des Diebold Schilling, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern). […]

In den politischen Systemen der alten Eidgenossenschaft hatte der Begriff Räte hauptsächlich zwei Bedeutungen: Erstens hiessen die behördenmässig organisierten, engeren und weiteren kollegialen Leitungs- und Verwaltungsausschüsse städtischer und ländlicher kommunaler Verbände bzw. die entsprechenden Ausschussmitglieder Räte (Kleiner Rat, Geheimer Rat, Grosser Rat, Landrat); im Namen der Gemeinde bzw. des Landes nahmen sie vielfältige rechtsetzende, judikative und exekutive Befugnisse wahr und übten eine Gebots- und Strafgewalt über den Landes- und Gemeindeverband aus. Zweitens wurden auch die Regierungskollegien der fürstlichen Landesherren – wie der Graf von Neuenburg, des Fürstbischof von Basel oder des Fürstabts von St. Gallen – bzw. die Mitglieder dieser Ausschüsse Räte genannt.

Räte als Institutionen kommunaler Verfassung

Räte waren in der Eidgenossenschaft sowohl in Städte- als auch in Länderorten ein zentrales Element des politischen Systems auf kommunal-genossenschaftlicher Grundlage; sie sicherten auf Dauer die politische Handlungsfähigkeit der Gemeinden. Unterschiede in der Gewichtigkeit der Räte sind aber zwischen Städte- und Länderorten nicht zu verkennen: Sammelte sich die politische Macht in den Ländern bei den beiden Polen der Häupter und der Landsgemeinde, während sich die Landräte vergleichsweise spät verfestigten, so konzentrierte sich die Macht in den Städten früh bei den Räten, insbesondere beim Kleinen Rat, während der direkte politische Einfluss der Bürgerversammlung (Gemeindeversammlungen) gering war und das städtische Bürgertum nur in Zunftstädten über die Zünfte Anteil an der Wahl der Räte bewahrte.

Parallelen zwischen den Verfassungen der Städte und Länder sind bei der institutionellen Entwicklung und Zusammensetzung der Räte auszumachen. Im 12. und 13. Jahrhundert dominierten kleine Leitungsgremien unter der Führung adliger Familien. Im Zuge der Kommunalisierung der Verfassung, der Ablösung landesherrlicher Befugnisse und deren Überführung in die Zuständigkeit von Räten und Gemeinden im 13. und 14. Jahrhundert wurden diese durch Institutionen auf breiterer kommunaler Basis ergänzt (Versammlung der Bürger- bzw. Landsgemeinde, Zünfte, Quartiere, Gemeinden als Wahlkörper bzw. Rekrutierungsbasis für die Räte). Im 14. Jahrhundert kam es zu einem Wechsel der Eliten und zur sozialen Verbreiterung der politischen Partizipation; bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts waren die Räte wegen demografischen Krisen, grosser Mobilität und politischen Umstürze durch einen raschen Wechsel der Mitglieder und relativ breite Beteiligungschancen der Bürger bzw. Landleute geprägt. Die Ratsverfassung blieb bis zum Ende der alten Eidgenossenschaft weitgehend in den organisatorischen und institutionellen Formen erhalten, wie sie sich bis zum 15. Jahrhundert ausgebildet hatten. Allerdings verringerten sich ab dem 16. Jahrhundert die Beteiligungschancen der meisten Gemeindegenossen, die soziale Grundlage der Räte wurde schmaler.

Räte in Städten

Die Versammlung des Kleinen und des Grossen Rats der Stadt Zürich. Radierung von David Herrliberger, Tafel VI seines Werks Explication des cérémonies sacrées [...], Zürich 1752 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Die Versammlung des Kleinen und des Grossen Rats der Stadt Zürich. Radierung von David Herrliberger, Tafel VI seines Werks Explication des cérémonies sacrées [...], Zürich 1752 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).

Der alte, alleinige Rat des 12. und 13. Jahrhunderts – ein kleines, vom Stadtherrn ernanntes oder durch Kooptation ergänztes Gremium «aus dem Kreis der Reichsten, Vornehmsten und Mächtigsten» (Eberhard Isenmann) – erweiterte sich im Zug der Verfassungsentwicklung im 14. Jahrhundert zum Kleinen Rat (ca. 20-50 Mitglieder), dem die Häupter (Bürgermeister, Schultheiss, Zunftmeister, Bannerherr, Säckelmeister) und weitere Räte angehörten. Der Grosse Rat (60-200 Mitglieder) stand dem Kleinen Rat spätestens ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts als Vertretung der Bürgerschaft zur Seite. Kleiner und Grosser Rat ergänzten sich fast überall ganz oder mehrheitlich in komplizierten Verfahren durch Kooptation. Die Räte übten ihr unentgeltliches Ehrenamt häufig auf Lebenszeit aus; Abkömmlichkeit war eine zentrale Voraussetzung für das Amt des Kleinrats. Der Grosse Rat tagte oft zusammen mit dem Kleinen Rat als geschlossene Körperschaft, hatte Anteil an der Wahl der Häupter, Kleinräte, Vögte, Amtleute und städtischen Bediensteten, nahm zu wichtigen innen- und aussenpolitischen Fragen Stellung (Steuern, Krieg und Frieden, Gebietserweiterungen, Burg- und Bürgerrechte, Bündnisse und Vereinigungen, Gesetzgebung) und war oberste Gerichtsinstanz. Seine Verhandlungen wurden allgemein vom Kleinen Rat beherrscht: Dieser beriet alle Geschäfte vor und entschied vielfach alleine, er berief den Grossen Rat ein, der wesentlich seltener tagte, und stellte die Anträge. In städtischen und aussenpolitischen Krisenlagen vertrat der Grosse Rat aber häufig den Anspruch, höchste Gewalt zu sein, und machte sich zum Sprachrohr oppositioneller Bewegungen in der Bürgerschaft gegen den Kleinen Rat, dessen «Regiment» aufgrund des Aufgabenkreises, des Informationsvorsprungs und der sozialen Distanz der Kleinräte zu weiten Teilen der Bürgerschaft obrigkeitliche Züge annahm. Der Kleine Rat verdankte diese Stellung der Tatsache, dass er mehrmals in der Woche tagte, um als «Regierung» die laufenden Geschäfte der Innen-, Aussenpolitik und Verwaltung zu besorgen und als Ratsgericht Verstösse gegen die städtischen Satzungen zu ahnden. Die Machtkonzentration beim Kleinen Rat führte in manchen Städten im 17. und 18. Jahrhundert zu politischen Auseinandersetzungen mit dem Grossen Rat oder der Bürgerschaft (Bern 1681-1687, Schaffhausen 1689, Basel 1691, Zürich 1713, Solothurn 1723, Genf 18. Jahrhundert), die zum Teil in neue Verfassungsbestimmungen zugunsten des Grossen Rats mündeten (Städtische Unruhen).

Räte in den Länderorten

Im Gegensatz zu den grösseren Städten, insbesondere den Hauptstädten der Städteorte, wo sich die Bürgergemeinde – wenn überhaupt – nur mehr zum Bürgereid, zur Vereidigung der Amtsträger und zur formellen Bestätigung der Ratswahlen versammelte, blieben in den Länderorten die Räte stärker unter der politischen Kontrolle der Versammlungen der Landleute (Landsgemeinde), die als höchste Gewalt zentrale Kompetenzen in der Regierung, Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit behaupteten. Zwischen zwei Landsgemeinden nahmen der Landammann und die im 15. Jahrhundert deutlicher hervortretenden Häupter (u.a. Statthalter, Bannerherr, Säckelmeister) die laufenden Geschäfte wahr, wobei ihnen als Ausschuss der Landleute bzw. der Teile des Landes (Rhoden, Viertel, Tagwen, Genossame, Ürten) ein Rat der Sechzig (Sechziger; Landrat) zur Seite stand, der in besonders wichtigen Angelegenheiten durch Kooptation eines oder zweier weiterer Ratsherren durch jedes Mitglied zu einem Zwei- oder Dreifachen Rat erweitert werden konnte. Diese Räte beschlossen in Fragen der Gesetzgebung, Verwaltung, Politik und Polizei, die nicht von der Landsgemeinde zu behandeln waren bzw. behandelt werden konnten, und amtierten in der Erweiterung zum Zwei- oder Dreifachen Rat auch als Strafgericht in Malefizfällen.

Anders als die Landräte der Länderorte wurzelt der Landrat im Wallis in der Tradition der spätmittelalterlichen Ständeversammlungen; er entwickelte sich im 15. und 16. Jahrhundert zu einem der eidgenössischen Tagsatzung vergleichbaren Beratungs- und Regierungsorgan, in dem die Boten der Zenden die Landespolitik gestalteten.

Tendenzen zur Aristokratisierung in der frühen Neuzeit

Die ab dem 16. Jahrhundert in Dörfern und Städten, in den Handwerken und Zünften immer stärker bemerkbare «Angst um den Lebensspielraum, den Arbeitsplatz und die ausreichende Ernährung» (Hans Conrad Peyer) äusserte sich in vielfältigen Massnahmen zur Abschliessung der Gemeinden gegenüber Neuzuzügern. Davon war in Städten und Ländern auch der Zugang zu den Räten betroffen: Die Mobilität innerhalb der Räte sank, die in den Räten vertretenen Familien suchten ihre Position, trotz Beibehaltung des Wahlprinzips und Einführung ausgeklügelter Wahl- und Losverfahren, auf die nächsten Generationen zu vererben und durch die Verdrängung anderer Familien aus den Räten – zum Beispiel durch die Beschränkung der Ratsfähigkeit auf einen engeren Kreis sogenannter regimentsfähiger und regierender Geschlechter – noch auszubauen. Der mit Absprachen, Spenden und Ämterkauf ausgetragene Kampf um vakante Ratsstellen wurde dadurch motiviert, dass in den Räten die einträglichen Ämter der Staatsverwaltung (Vogteien) und die Offiziersstellen in fremden Diensten vergeben wurden und die Räte als Folge der Reformation und Staatsintensivierung «ein religiös verstärktes Regentenbewusstsein» (Peyer) ausbildeten. Die Tendenz zur Aristokratisierung des politischen Systems war allgemein, in den patrizischen Orten aber ausgeprägter als in den Zunftstädten, wo Teile der Räte weiterhin von den Zünften gewählt oder aus ihnen kooptiert wurden. Für den auch in den Länderorten feststellbaren Prozess der Aristokratisierung spielten die Räte eine weniger entscheidende Rolle als in den Städten, da dort die Landsgemeinde die Häupter und Träger von Staatsämtern wählte.

Fürstenräte

Die Räte der Fürsten waren Nachfolger der mittelalterlichen curiae. Letztere gehen auf die Verpflichtung der Vasallen zurück, ihren Herrn im Gericht, in Politik und Verwaltung zu unterstützen. In Neuenburg wird 1213 eine curia dieser Art erwähnt, ab 1396 ist ein Rat überliefert, der von 1530 an regelmässig tagte. Er trug verschiedene Namen, die alle dem französischen Vorbild entlehnt wurden: conseil privé, conseil étroit und vom Ende des 16. Jahrhunderts an conseil d'Etat, eine Bezeichnung, die von der Republik 1848 wieder aufgenommen wurde und von da an die kantonale Exekutive bezeichnete. Der conseil d'Etat oder Staatsrat wurde in der Regel vom Statthalter geleitet, der die Herrschaft repräsentierte. Als Amtsträger des Landesfürsten wurden die Ratsmitglieder ursprünglich auch von diesem ernannt. Die Geistlichen waren bis zur Reformation mit zwei Domherren der Neuenburger Stiftskirche im Rat vertreten; danach setzte sich der Rat aus Adligen und Amtsträgern zusammen, wobei die Letzteren in der Mehrheit waren. Bis 1707 betrug die Zahl der Ratsmitglieder nicht mehr als zwölf, zwischen 1709 und 1831 21, dann nur noch acht. Doch auch als Fürstenrat hatte der Neuenburger Staatsrat einige Gemeinsamkeiten mit den Räten der eidgenössischen Orte: Vergleichbar war zum Beispiel die soziale Rekrutierungsbasis, etwa drei Dutzend Familien (geadelte Bürger von Neuenburg) teilten sich im Fürstentum die Ratsstellen; Kooptation war im Ancien Régime die Regel, in Neuenburg folgte ihr die Bestätigung durch den Landesfürsten. Dessen Abwesenheit förderte eine gewisse Autonomie, und bis zur Französischen Revolution war es dem Neuenburger Rat möglich, gelegentlich eine unabhängige Aussenpolitik zu betreiben. Louis-Alexandre Berthier behielt als Fürst von Neuenburg die Institution des Staatsrats bei, der auch zwischen 1815 und 1848 ein Rat des Fürsten blieb.

Der Rat des Basler Fürstbischofs, auch Geheimer Rat oder Staatsrat genannt, zählte im 18. Jahrhundert nur vier bis fünf Mitglieder, meist Adlige, deren Ernennung durch das Domkapitel bestätigt wurde. Seine Funktion war die Regierung. Er verschwand mit dem Fürstbistum um 1800.

Quellen und Literatur

  • J.J. Blumer, Staats- und Rechtsgesch. der schweiz. Demokratien oder der Kt. Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus, Zug und Appenzell 1, 1848-50, 265-289; 2/I, 1858, 95-195
  • Peyer, Verfassung, 48-55, 107-116
  • B. Truffer, «Les Recès de la Diète valaisanne, source primordiale de l'histoire de notre pays du 16e au 18e siècle», in Ann. val. 57, 1982, 145-155
  • Braun, Ancien Régime, 211-276
  • R. Scheurer et al., Histoire du Conseil d'Etat neuchâtelois, 1987, 7-178
  • P. Blickle, «Friede und Verfassung», in Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft 1, 1990, 13-202, v.a. 93-134
  • E. Isenmann, «Die städt. Gem. im oberdt.-schweiz. Raum (1300-1800)», in Landgem. und Stadtgem. in Mitteleuropa, hg. von P. Blickle, 1991, 191-261
  • S. Schüpbach-Guggenbühl, Schlüssel zur Macht, 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

André Holenstein: "Räte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 09.12.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010235/2014-12-09/, konsultiert am 12.04.2024.