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Kanzlei

Die Kanzlei bildet den Kern der Verwaltung. Der Begriff cancellaria als Bezeichnung für die Kanzlei taucht erstmals im späten 12. Jahrhundert in den Quellen auf. Vorher war die Bezeichnung scrinium üblich. Älter ist der Begriff cancellarius, der in spätantiker Tradition im fränkischen Reich den Gerichtsdiener und Grafschaftsschreiber bezeichnete, im 9. Jahrhundert auch einen Urkundenschreiber. Ab 868 hiess der Leiter der deutschen Königs-Kanzlei cancellarius; diesen Titel übernahmen allmählich auch die Leiter anderer Kanzleien.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Das mittelalterliche und frühneuzeitliche Kanzleiwesen, das die Schreibarbeit einer Verwaltung möglichst an einer Stelle konzentrierte (Akten), gründet in der päpstlichen Kanzlei, und nicht in der spätrömischen Verwaltung, wo mit jeder amtlichen Handlung Schriftlichkeit verbunden war. Zwei Merkmale kennzeichnen die mittelalterlichen Kanzleien: die Dominanz des Klerus und die enge Verbindung zum Archiv. In der merowingischen Königs-Kanzlei bestand das Personal zwar noch aus weltlichen Hofbeamten, von der Karolingerzeit an waren die Kanzleibeamten jedoch Angehörige der Hofkapelle. Unter König Ludwig dem Deutschen wurde der Erzkaplan Vorsteher der Kanzlei, ab 870 (dauerhaft ab 975) war dies der Erzbischof von Mainz, dessen Amtsbereich sich aber nur auf den deutschen Teil des Reichs beschränkte.

Register des Lausanner Domkapitels, 1253–1313 (Archives cantonales vaudoises, Chavannes-près-Renens, Ac 11, Fol. 1r; Fotografie Rémy Gindroz).
Register des Lausanner Domkapitels, 1253–1313 (Archives cantonales vaudoises, Chavannes-près-Renens, Ac 11, Fol. 1r; Fotografie Rémy Gindroz). […]

Für das Gebiet der heutigen Schweiz ist bezüglich der Organisation und Entwicklung von Rechts- und Verwaltungsschriftgut ein markantes West-Ost- sowie Süd-Nord-Gefälle feststellbar. In Rätien und in der Westschweiz lebte die antik-fränkische Schreibertradition weiter, während sie in Alemannien abbrach. Auch das Notariat mit seinen grossen Registerserien blieb zur Hauptsache auf die Westschweiz und die Südtäler beschränkt. Kanzleien als feste Verwaltungseinrichtungen existierten vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, abgesehen von wenigen Ausnahmen (z.B. in St. Gallen), kaum. Die Existenz von Kanzleien in Adelsherrschaften (etwa der Habsburger) kann aufgrund des heutigen Forschungsstands ausgeschlossen werden. In den Städten tauchten gegen Ende des 13. Jahrhunderts die ersten Stadtschreiber auf. Im Westen und Süden setzte die Entwicklung etwas früher ein. Generell verfügten zuerst kirchliche Institutionen (Bistümer und Klöster) über ausgebildete Kanzleien; die ersten bezeugten Stadtschreiber waren Kleriker, die allmählich von Laien abgelöst wurden.

Bei dem unterschiedlichen Entwicklungsstand organisierter Schriftlichkeit ist nicht immer klar zu entscheiden, wann von einer Kanzlei gesprochen werden kann. Ein Kriterium sind die Register, jene Behelfe, in welche gemäss dem päpstlichen Vorbild unter anderem die ausgehenden Briefe, die abgeschlossenen Verträge, die in eigener oder fremder Sache ausgestellten Urkunden, die verkündeten Erlasse und Urteile eingetragen wurden. Das älteste erhaltene Register stammt aus der Kanzlei des Lausanner Domstifts, datiert auf 1253. Um 1280 wurde eines in der Kanzlei des Sittener Domkapitels angelegt. Das älteste bekannte Register der bischöflichen Kanzlei in Genf war 1428-1466 in Gebrauch. In der bischöflichen Kanzlei in Konstanz begann man 1434 mit der Führung von Konzeptregistern. Aus der Kanzlei der Basler Bischöfe sind keine mittelalterlichen Register bekannt. Dagegen führte die Kanzlei des Basler Offizialats von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts an mehrere Register. Bei den städtischen Kanzleien können drei Registertypen als Indikatoren für den Entwicklungsstand angesehen werden: die Missivenbücher, die Gerichtsbücher und die Register mit den Mandaten und Verfügungen an die Amtsleute und die Untertanen. Die frühesten erhaltenen Missivenbücher, d.h. die Registrierung der auslaufenden Ratskorrespondenz, stammen aus der Kanzlei von Basel; sie setzen 1386 bzw. 1409 ein und reichen bis ins 19. Jahrhundert. Missivenbücher wurden 1421 in den Stadt-Kanzleien von Zürich, 1442 in Bern und 1449 in Freiburg angelegt. In den meisten anderen Städten beginnen diese Bandserien erst im 16. Jahrhundert. Die frühesten Gerichtsbücher, die Instrumente mit einem Ausstellungsvermerk enthalten, sind die Urteils-, Fertigungs- und Appellationsprotokolle in Basel (1394), die Gerichtsbücher in Freiburg (1403) und die Spruchbücher in Bern (1411). Zu den ältesten Registern mit Mandaten und Verfügungen an Amtsleute und Untertanen zählen die Rufbücher in Basel (1417) und die Polizeibücher in Bern (1458). Die Entwicklung der Stadt-Kanzleien kann auch mit Hilfe der Quellen zur städtischen Finanzverwaltung oder anhand von Untersuchungen über das dort beschäftigte Personal (u.a. Stadt-, Unter-, Gerichts- oder Vogteischreiber) verfolgt werden. Die Konsolidierung der territorialen Erwerbungen im 15. Jahrhundert sowie deren Verwaltung (z.B. in Luzern um 1430) führten zum Ausbau der städtischen Verwaltung und, damit verbunden, der Kanzleien (Territorialherrschaft). Die weitere Entwicklung der Kanzleien erfolgte parallel zu den einzelnen Schüben der Herrschaftsintensivierung im 16. und 17. Jahrhundert.

Kantonale Staatskanzleien und Bundeskanzlei im 19. und 20. Jahrhundert

Die Leitung der kantonalen Staats-, Landes- oder Rats-Kanzleien obliegt einem Chef, dessen Bezeichnung je nach Kanton variiert: Rat- oder Ratsschreiber (Glarus, Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden), Staatsschreiber (Zürich, Bern, Basel-Stadt, Schwyz, Solothurn, Luzern, Schaffhausen, Thurgau, Aargau), Landschreiber (Obwalden, Nidwalden, Basel-Landschaft, Zug), Kanzleidirektor (Uri, Graubünden), Staatskanzler, Chancelier d'Etat bzw. de l'Etat oder Cancelliere dello Stato (Freiburg, Wallis, Waadt, Genf, Neuenburg, Jura, Tessin), Staatssekretär (St. Gallen).

Die Tagsatzung der alten Eidgenossenschaft kannte keine Kanzlei, sondern bediente sich zum Verfassen der Abschiede der Kanzleien der verschiedenen Tagsatzungsorte. Die Mediationsakte von 1803 (Kapitel XX, Artikel 38) schuf das Amt des eidgenössischen Kanzlers. Es ging einerseits aus demjenigen des Landschreibers, andererseits aus der Funktion des Generalsekretärs des Helvetischen Direktoriums hervor und war zunächst zusammen mit dem eidgenössischen Staatsschreiber als Stellvertreter das einzige ständige Amt im Staatenbund. Auch in der Restaurationszeit wurde diese Funktion beibehalten (Bundesvertrag 1815, Artikel 10). Dem eidgenössischen Kanzler oblagen die Protokollführung in der Tagsatzung, die Führung der eidgenössischen Korrespondenz mit den Kantonen und dem Ausland, die Drucklegung der Abschiede und der offiziellen Sammlung der eidgenössischen Gesetze, der Beschlüsse, Verordnungen, Konkordate und Staatsverträge sowie die Betreuung des eidgenössischen Archivs (Bundesarchiv). Zunehmend kamen französische Übersetzungen, aber auch diplomatische Aufgaben im Verkehr mit dem Ausland hinzu.

Mit der Schaffung des Bundesstaats und seinen Institutionen Bundesrat, Bundesversammlung und Bundesverwaltung war die Kanzlei nicht mehr einziges ständiges Bundesorgan; 1848-1895 wurde die Bundeskanzlei dem Eidgenössischen Departement des Innern (EDI), 1896-1967 dem Politischen Departement zugeordnet. Das Bundesarchiv blieb zunächst eine besondere Abteilung der Bundeskanzlei und wurde 1895 bei der Umteilung der Bundeskanzlei eine Abteilung des EDI. 1926-1972 lösten sich die Parlamentsdienste zusehends, waren dann bis zum Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung nur noch administrativ der Bundeskanzlei zugeordnet und sind seit 2000 selbstständig. Die Kanzleiaufgaben umfassen die Betreuung der zentralen Registratur der Bundesverwaltung (Akteneingang und -ausgang, Dossierbildung, Zuweisung an die federführenden Departemente, Geschäftskontrolle und geordnete Abgabe ans Bundesarchiv), den Weibeldienst (Weibel), das Beglaubigungswesen, die Betreuung der Bundesratsgeschäfte (Vorbereitung der Bundesratssitzungen, Erstellen der Protokollauszüge, Ausstellung von Staatsverträgen, Vollmachten, Beglaubigungs- und Empfehlungsschreiben), das zentrale Redaktions- und Übersetzungswesen, die Herausgabe der amtlichen Gesetzessammlung und der Systematischen Rechtssammlung (1947 und ab 1967) sowie die Leitung der Eidgenössischen Parlaments- und Zentralbibliothek und bis 1999 der Eidgenössischen Drucksachen- und Materialzentrale (seither im Finanzdepartement). 1926 kam die Betreuung der politischen Rechte (Volksabstimmungen, Nationalratswahlen, Volksinitiativen und Referenden) hinzu, 1967 die redaktionelle Betreuung der Bundeserlasse. Um 2000 stand im Rahmen der Staatsleitungsreform auch die Rolle der Bundeskanzlei neu zur Diskussion.

Die Alte Kanzlei von Riehen, 2003 (Fotografie Max E. Hauck).
Die Alte Kanzlei von Riehen, 2003 (Fotografie Max E. Hauck). […]

Der Bundeskanzler als Leiter der Bundeskanzlei erhielt 1848 die Stellung eines Magistraten; 1918 wurde das Amt zunehmend auf Kanzleiarbeiten beschränkt, bis es 1967 nach der Mirageaffäre wieder zum eigentlichen Stabsorgan des Bundesrats aufgewertet wurde. Beratung, interdepartementale Koordination und Kontrolle sowie die Vorbereitung der Regierungsrichtlinien bildeten um 2000 neben den Führungsaufgaben die Schwerpunkte der Tätigkeiten des Bundeskanzlers.

Aufgaben und Stellung der kantonalen Staatskanzleien unterschieden sich seit 1803 kaum von jenen der Eidgenössischen Kanzlei bzw. der Bundeskanzlei. Die Betreuung der politischen Rechte verblieb zuweilen in einem kantonalen Departement. In verschiedenen Kantonen verselbstständigte sich in jüngerer Zeit das Sekretariat des Parlaments entsprechend der Entwicklung auf Bundesebene.

Quellen und Literatur

  • K. Mommsen, «Das Basler Kanzleiwesen des SpätMA», in BZGA 74, 1974, 159-188
  • P. Rück, «Das öffentl. Kanzellariat in der Westschweiz (8.-14. Jh.)», in Landesherrl. Kanzleien im SpätMA, 1984, 203-271
  • W. Buser, «Art. 105», in Kommentar zur Bundesverfassung der Schweiz. Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, hg. von J.-F. Aubert et al., 4, 1987
  • LexMA 5, 910-929
  • Quelle chance pour nos institutions?, hg. von M. Klaus, 1995, 137-203
  • R. Aebischer et al., Jubiläumsschr.: Staatskanzlei ― Stabsstelle im Zentrum der Entscheidungsprozesse, 2000
  • P. Rück, «Zur Diskussion um die Archivgesch.: Die Anfänge des Archivwesens in der Schweiz (800-1400)», in Elementa diplomatica 9, 2000, 5-16
Weblinks

Zitiervorschlag

Anton Gössi; Hans-Urs Wili: "Kanzlei", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.11.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009641/2014-11-26/, konsultiert am 28.03.2024.