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Mathematik

Mathematik ist eine der ältesten Wissenschaften. Sie bezeichnete ursprünglich die Lehre von den Grössen, welche die Pythagoreer in die vier Disziplinen des späteren Quadriviums (Arithmetik, Musiktheorie, Geometrie, Astronomie) gliederten. Sie ging aus den praktischen Aufgaben des Zählens, Rechnens und Messens hervor und entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer «Wissenschaft von den formalen Systemen» (David Hilbert). Dabei wird von der ursprünglichen Bedeutung der untersuchten Objekte abstrahiert; die moderne Mathematik sieht ihre Aufgabe vor allem in der Untersuchung sogenannter Strukturen, die durch die in einer vorgegebenen Menge beliebiger Objekte definierten Relationen und Verknüpfungen bestimmt sind. Üblicherweise unterscheidet man die reine von der angewandten Mathematik. Zu Ersterer gehören unter anderem Arithmetik, Algebra, Analysis, Geometrie, Topologie und Zahlentheorie sowie die Mengenlehre und die Modelltheorie; zu Letzterer zählen unter anderem die Numerik, Stochastik (Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie), Komplexitäts- und Algorithmentheorie. Die Mathematik erhält bis heute starke Impulse aus den Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften durch das Bestreben, reale Vorgänge mathematisch zu beschreiben. Umgekehrt dringen mathematische Theorien immer stärker in diese Wissenschaften ein, indem beim wissenschaftlichen Rechnen aufwendige reale Experimente und Sachverhalte durch computergestützte Simulationen ersetzt und studiert werden.

Nur wenige Länder haben pro Kopf der Bevölkerung so viele bedeutende Mathematiker hervorgebracht wie die Schweiz, und kein anderes Land durfte bis heute den Internationalen Mathematikerkongress dreimal beherbergen. Mehrere bedeutende Schweizer Mathematiker wirkten im Ausland (u.a. Jost Bürgi, Leonhard Euler, Jakob Steiner, Charles François Sturm). Andererseits waren in der Schweiz ab dem 19. Jahrhundert zahlreiche ausländische Gelehrte tätig (u.a. Richard Dedekind, Hermann Minkowski, Hermann Weyl), die zum Teil in der Schweiz blieben und sich einbürgerten (Joseph Ludwig Raabe, Ferdinand Rudio, Heinz Hopf).

Mittelalter und frühe Neuzeit

Gliederung des Quadriviums (divisio mathematicae) in einer Schulhandschrift aus dem Kloster St. Gallen. Abschrift von Cassiodors Institutiones saecularium litterarum, einer Zusammenfassung der Sieben Freien Künste, 9. Jahrhundert (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 855, S. 276; e-codices).
Gliederung des Quadriviums (divisio mathematicae) in einer Schulhandschrift aus dem Kloster St. Gallen. Abschrift von Cassiodors Institutiones saecularium litterarum, einer Zusammenfassung der Sieben Freien Künste, 9. Jahrhundert (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 855, S. 276; e-codices). […]

Handschriften aus den Stiftsbibliotheken von Einsiedeln und St. Gallen belegen die Auseinandersetzung mit mathematischen Fragen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz bereits ab dem Frühmittelalter. Vom 9. bis ins 11. Jahrhundert erlebte die St. Galler Klosterschule im Zuge der karolingischen Bildungsreform eine Hochblüte. Mathematik wurde damals im Rahmen des Quadriviums der Septem artes liberales gelehrt, dem mittelalterlichen Bildungskanon. Unter den in St. Gallen benutzten Schriften zum Quadrivium befinden sich einführende Texte zur Arithmetik, Musiktheorie, Geometrie und Astronomie der spätantiken und frühmittelalterlichen Enzyklopädisten Martianus Capella, Cassiodorus und Isidorus von Sevilla. Tiefer gehen die Texte des Boethius und des Beda Venerabilis, die sich zum Teil explizit an Euklids «Elemente» anlehnen. Cod. Sang. 248 enthält die Arithmetik des Boethius sowie «De natura rerum», «De temporibus» und «De temporum ratione» von Beda nebst umfangreichen Tabellen zur Zeitrechnung. Cod. Sang. 830 umfasst Abschriften mehrerer Werke von Boethius und der Geometrie I (Pseudo-Boethius) mit einem längeren Dialog über geometrische Fragen zwischen Lehrer und Schüler («Altercatio duorum geometricorum») sowie Anmerkungen von Ekkehard IV. Der St. Galler Mönch Notker der Deutsche erstellte gemäss eigenen Angaben eine deutsche Übersetzung der Anfangsgründe der Arithmetik (wohl des Boethius), die aber nicht erhalten ist. Auch die Stiftsbibliothek Einsiedeln verfügt über zwei Manuskripte (Cod. 298 und 358) aus dem 10. Jahrhundert, welche Abschriften der Geometrie I (Pseudo-Boethius) und der Arithmetik (Boethius) enthalten. In Verbindung mit der Astronomie gab die Arithmetik Anleitung zur Berechnung des jeweiligen Osterdatums und der davon abhängigen übrigen beweglichen Feste des Jahres; die Berechnungsregeln sind im sogenannten Computus festgehalten. In der Stiftsbibliothek St. Gallen befinden sich über 20 Handschriften aus dem 8.-12. Jahrhundert mit komputistischen Texten und Tabellen. Einzelne mittelalterliche Handschriften mit mathematischen Texten befinden sich heute auch im Besitz der schweizerischen Universitätsbibliotheken.

"Messung" einer unzugänglichen Länge AB mittels Basismessung CD, Winkelmessung und anschliessender trigonometrischer Berechnung (linke Figurenhälfte), bzw. von AO mittels Konstruktion einer verkleinerten ähnlichen Figur auf einem Messtisch (rechte Figurenhälfte). Aus Geometriae theoricae et practicae (1627), Blatt 219, von Johann Ardüser (Zentralbibliothek Zürich, Abteilung Alte Drucke und Rara).
"Messung" einer unzugänglichen Länge AB mittels Basismessung CD, Winkelmessung und anschliessender trigonometrischer Berechnung (linke Figurenhälfte), bzw. von AO mittels Konstruktion einer verkleinerten ähnlichen Figur auf einem Messtisch (rechte Figurenhälfte). Aus Geometriae theoricae et practicae (1627), Blatt 219, von Johann Ardüser (Zentralbibliothek Zürich, Abteilung Alte Drucke und Rara). […]

Am Übergang zur Neuzeit entstand in Basel im Gefolge des Konzils (1431-1449) zunächst eine Konzils- und Kurienuniversität, aus der 1460 die heutige Universität Basel hervorging; diese Gründung leitete die Entwicklung der Stadt zu einem Zentrum des Humanismus und der Buchdruckerei ein. Unter den zahlreichen in Basel erschienenen mathematischen Schriften ist unter anderem die griechische Gesamtausgabe der «Elemente» Euklids (1533) durch den Basler Gräzisten und Theologen Simon Grynaeus zu erwähnen, der auch den «Almagest» des Ptolemaios (1538), die «Hypotyposis astronomicarum positionum» von Proclus Diadochos (1540) sowie zahlreiche Schriften von und über Aristoteles edierte. Grosse Beachtung fanden auch die griechisch-lateinische editio princeps der Werke von Archimedes (1544) durch Thomas Gechauff Venatorius sowie die Drucke zu Euklid und Diophantos von Wilhelm Holtzmann, genannt Xylander. Basel war der einzige Ort in der Schweiz, der vom 16. Jahrhundert an eine ständige Dozentur für Mathematik unterhielt. Diese erstreckte sich zunächst noch auf alle vier Fächer des Quadriviums. Unter den bedeutenderen Lehrstuhlinhabern finden sich Heinrich Loriti (Glarean), Christian Wurstisen sowie Peter Megerlin. Ab 1687 hatten während über hundert Jahren Mitglieder der Familie Bernoulli den Lehrstuhl inne.

An den nach der Reformation teils erweiterten, teils neu gegründeten Hohen Schulen in Zürich (1525), Bern (1528), Lausanne (1537), Genf (1559) und Freiburg (1582) hatte die Mathematik bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts keine eigenen festen Lehrstühle (Akademien). Das Fach wurde meist von Philosophen oder Theologen vertreten oder in Randstunden von Lektoren gelehrt. Trotzdem befassten sich auch in diesen Städten vereinzelt Gelehrte, Ingenieure (Ingenieurwesen), Kartografen (Kartografie), Feldmesser, Instrumentenmacher, Büchsen- oder Rechenmeister eingehender mit mathematischen Fragen. In Zürich entwickelte zum Beispiel Leonhard Zubler neue geometrische Messinstrumente, der Stadtingenieur Johann Ardüser erarbeitete die zwölfbändige «Geometriae theoricae et practicae» (1627) sowie ein nicht veröffentlichtes Werk zur Baukunst und der Landvogt Hans Heinrich Rahn publizierte seine «Teutsche Algebra ...» (1659, erweiterte englische Ausgabe 1668 von John Pell). Mit der Verbannung des seit 1648 mit dem Mathematikunterricht betrauten Kopernikaners Michael Zingg erfuhr die Pflege der Mathematik in Zürich 1661 allerdings einen Rückschlag. Mehrere in Basel ab der Mitte des 16. Jahrhunderts erschienene elementare Einführungsschriften in die Rechenkunst und das Feldmessen deckten die Bedürfnisse des aufstrebenden Kaufmannsgewerbes, der Bauleute und der Stadtverwaltung ab (Buchhaltung, Vermessung). In Freiburg veröffentlichte der Schulmeister Johann Fridolin Lautenschlager 1598 «Ein Newes, Wolgegruendtes Kunst- und Nutzliches Rechebuechlein ...», einer der ersten Freiburger Drucke. In Bern publizierte Johann Rudolf von Graffenried seine wohldokumentierten «Arithmeticae Logisticae popularis libri IIII» (1618). Etliche bekannte Schweizer Mathematiker wie zum Beispiel Konrad Dasypodius (Euklid-Edition, astronomische Uhr am Strassburger Münster), Jost Bürgi (Logarithmen, Coss), Paul Guldin (Guldin'sche Regeln), Barthélemy Souvey (Indivisiblentheorie) oder Johann Baptist Cysat («Mathemata astronomica») wirkten ausserhalb der Eidgenossenschaft. Neben Guldin, Souvey und Cysat lehrte im 17. und 18. Jahrhundert rund ein Dutzend weitere Schweizer Jesuitenmathematiker zeitweise an ausländischen Institutionen (v.a. Dillingen, Ingolstadt, Freiburg im Breisgau).

Die Anfänge der modernen Mathematik

Die Vollständige Anleitung zur Algebra von Leonhard Euler. Titelseite des ersten Bandes, erschienen in Sankt Petersburg 1770 (Universitätsbibliothek Basel, Ke VI 1).
Die Vollständige Anleitung zur Algebra von Leonhard Euler. Titelseite des ersten Bandes, erschienen in Sankt Petersburg 1770 (Universitätsbibliothek Basel, Ke VI 1). […]

Mit der Berufung Jacob Bernoullis auf den Basler Lehrstuhl 1687 setzte das goldene Zeitalter der Schweizer Mathematik ein. Bernoulli wandte die von Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte Differential- und Integralrechnung auf Reihen, verschiedene klassische Kurven und Probleme der Variationsrechnung an. Sein postum publiziertes Werk «Ars conjectandi» (1713) war grundlegend für die Theorie der Wahrscheinlichkeit. Nach Jacobs Tod 1705 übernahm dessen jüngerer Bruder Johann den Basler Lehrstuhl. Er entwickelte eine allgemeine Theorie der Integration rationaler Funktionen, neue Lösungsmethoden für Differentialgleichungen sowie zahlreiche Anwendungen der Infinitesimalrechnung auf Probleme der Physik und Astronomie. Unter seinen Schülern befinden sich seine Söhne Daniel, Johann und Nicolaus sowie der noch berühmtere Leonhard Euler. Da der Basler Lehrstuhl bereits besetzt war und Euler bei seiner Bewerbung um die 1727 frei gewordene Physikprofessur in Basel wegen seiner Jugend kein Glück hatte, wirkte er in St. Petersburg und Berlin.

Euler hat mit seinem monumentalen Werk sämtliche Gebiete der Mathematik und Physik beeinflusst. Seine bis heute nachwirkende Lehrbuchtrilogie «Introductio in analysin infinitorum» (1748), «Institutiones calculi differentialis» (1755), «Institutiones calculi integralis» (1768-1770) stellt in meisterlicher Darstellung eine Synopsis der zeitgenössischen höheren Mathematik dar. 1770 erschien Eulers zweibändige «Vollständige Anleitung zur Algebra», eines der erfolgreichsten mathematischen Werke aller Zeiten mit einer Auflage von über 100'000 Exemplaren. Neben Euler wirkten im 18. Jahrhundert auch Daniel, Nicolaus und Jacob Bernoulli aus der zweiten und dritten Generation der Mathematikerfamilie, Johann Albrecht Euler, Niklaus Fuss, Jacob Hermann sowie verschiedene andere Schweizer Mathematiker und Naturwissenschaftler an der Petersburger Akademie.

1724 richtete auch die Genfer Akademie einen Lehrstuhl für Mathematik ein, der zunächst mit Jean-Louis Calandrini und Gabriel Cramer (1704-52) besetzt wurde. In einem Anhang zu seiner «Introduction à l'analyse des lignes courbes algébriques» (1750) behandelte Cramer die nach ihm benannte Regel zur expliziten Auflösung linearer Gleichungssysteme mittels der von Leibniz eingeführten Determinanten, was schliesslich zur Entwicklung der linearen Algebra führte. Zu Cramers Nachfolgern auf dem Lehrstuhl zählen Louis Necker, Louis Bertrand und Simon-Antoine L'Huillier. An der Akademie in Lausanne war damals der Philosoph und Mathematiker Jean-Pierre de Crousaz tätig, der eine Abhandlung zur Theorie der Kurven und Flächen (1718), einen Kommentar (1721) zur bekannten Infinitesimalrechnung des Marquis Guillaume de l'Hôpital und einen «Traité de l'algèbre» (1726) verfasste. Sein Enkel Jean Philippe Loys de Cheseaux war eine Autorität auf dem Gebiet der mathematischen Physik. Im Anhang seines Traktates über den Kometen von 1743/1744 befasste sich Loys achtzig Jahre vor Wilhelm Olbers mit der Frage, weshalb der Himmel nachts dunkel ist (Olbers'sches Paradoxon). Ferner verfasste er einen kurzen Artikel mit dem Titel «Probabilités sur la longueur de la vie humaine», in dem er Probleme der späteren Versicherungsmathematik aufgriff.

Die Berner Akademie errichtete 1736 eine ausserordentliche Professur für mathematische Wissenschaften, die 1749 zur ordentlichen aufgewertet wurde. Am Collegium humanitatis in Schaffhausen lehrten damals Thomas Spleiss und Christoph Jezler. Der aus dem zugewandten Ort Mülhausen stammende Universalgelehrte Johann Heinrich Lambert bewies die Irrationalität von π und verfasste bedeutende Beiträge zur nichteuklidischen und darstellenden Geometrie sowie Vorarbeiten zum späteren Logikkalkül von George Boole und Gottlob Frege. Die meisten dieser Gelehrten standen untereinander in engem persönlichem Verkehr: Mehrere hatten noch bei den Bernoullis in Basel oder bei Euler studiert, etliche waren durch Empfehlungen ihrer Kollegen auf Stellen im In- oder Ausland berufen worden (so zum Beispiel Lambert durch Euler nach Berlin) und übernahmen später gegenseitig die Edition ihrer gesammelten Werke (z.B. Cramer jene der Schriften der Bernoullis).

Institutionalisierung vom 19. bis ins 20. Jahrhundert

Der Übergang von der alten Eidgenossenschaft zum Bundesstaat führte im wissenschaftlichen Bereich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Zerfall alter und der Entstehung neuer Strukturen. Die wenigen bedeutenden Mathematiker dieser Umbruchszeit wirkten meist im Ausland wie der Berner Jakob Steiner (1796-1863) und der Genfer Charles François Sturm. Die neu entstandenen schweizerischen Universitäten unterhielten zunächst allenfalls einen einzigen Lehrstuhl für Mathematik, der zudem oft mit Gelehrten besetzt war, die sich mehr um praktische Fragen wie zum Beispiel die damals beginnende trigonometrische Landesvermessung zur Herstellung genauerer Landkarten kümmerten. So vermass der Berner Lehrstuhlinhaber Johann Georg Tralles, teils unterstützt von Ferdinand Rudolf Hassler und Jean-Frédéric d'Ostervald, 1788-1803 mehrere Basislinien von ca. 2-13 km Länge mittels einer geeichten Messkette und eiserner Messstangen, an die dann die trigonometrischen Netze in den Kantonen Bern und Neuenburg angeschlossen wurden. Analog bemühte sich der Basler Lehrstuhlinhaber Daniel Huber 1813-1824 um die Vermessung des Kanton Basel. Bei der eidgenössischen Triangulation unter dem späteren General Guillaume-Henri Dufour wirkten unter anderem Tralles' Nachfolger Friedrich Trechsel und der Zürcher PD Johannes Eschmann (1808-1852) mit.

Anzeigekarte des ersten Internationalen Mathematikerkongresses am Polytechnikum in Zürich, 9.-11. August 1897 (ETH-Bibliothek Zürich, Archive und Nachlässe).
Anzeigekarte des ersten Internationalen Mathematikerkongresses am Polytechnikum in Zürich, 9.-11. August 1897 (ETH-Bibliothek Zürich, Archive und Nachlässe). […]

Bahnbrechende Forschungsleistungen in der reinen Mathematik wurden in der Schweiz erst nach der Gründung des Eidgenössischen Polytechnikums (Eidgenössische Technische Hochschule, ETH) 1855 in Zürich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder erbracht. Fünf dort schon in den Anfangsjahren errichtete Lehrstühle für Mathematik (von insgesamt ca. 35 Professuren) sollten angehenden Ingenieuren die mathematischen Grundlagen vermitteln. Zu den ersten Professoren für Mathematik gehörten Joseph Wolfgang von Deschwanden, erster Direktor des Polytechnikums, und Joseph Ludwig Raabe, der zuvor auch an der Zürcher Kantonsschule und Universität gelehrt hatte. Unter der Leitung des zweiten Präsidenten des Schulrates, Johann Karl Kappeler, wurde die Forschung systematisch ausgebaut und viele deutsche Nachwuchstalente für das Polytechnikum gewonnen. Nach dem Rücktritt Raabes folgten ihm im raschen Wechsel mehrere dieser hervorragenden Wissenschaftler auf den Lehrstuhl, den sie meist als Sprungbrett für die Berufung an eine deutsche Hochschule nutzten (z.B. Richard Dedekind, Elwin Bruno Christoffel, Hermann Amandus Schwarz oder Ferdinand Georg Frobenius). Da die mathematische Vorbildung der Studenten oft ungenügend war, schuf Kappeler 1866 eine neue sechste Abteilung, die Schule für Fachlehrer in mathematischer und naturwissenschaftlicher Richtung, aus der 1909 die Abteilung für Fachlehrer in Mathematik und Physik bzw. 1932 die Abteilung für Mathematik und Physik der ETH entstand. Am Polytechnikum bzw. an der ETH wirkten in jener Zeit überdies Friedrich Emil Prym, Heinrich Weber (1843-1913), Friedrich Hermann Schottky, Adolf Hurwitz, Hermann Minkowski sowie die Schweizer Carl Friedrich Geiser, Wilhelm Fiedler und Ferdinand Rudio.

An der 1833 gegründeten Universität Zürich war bereits 1837 ein Ordinariat für Mathematik geschaffen worden, das zunächst durch den international kaum bekannten Anton Müller aus Heidelberg besetzt wurde. Nach dessen Tod lehrten dort als Ordinarien Arnold Meyer-Keyser, Heinrich Burkhardt und Ernst Zermelo, neben Karl Gräffe und einigen anderen Dozenten. 1897 organisierten die Zürcher Mathematiker den ersten Internationalen Mathematiker-Kongress. Die Zusammenarbeit zwischen den Mathematikern der beiden Zürcher Hochschulen war zeitweise sehr eng, da etliche Professoren des Polytechnikums auch an der Universität unterrichteten, die beiden Hochschulen zunächst in denselben Räumlichkeiten untergebracht waren und das Polytechnikum das Recht zur Doktorpromotion erst 1909 erhielt.

Der ETH-Professor Hermann Weyl war einer der wichtigsten und vielseitigsten Mathematiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unter dem Einfluss des damals ebenfalls an der ETH tätigen Albert Einstein schrieb er sein bahnbrechendes Werk «Raum, Zeit, Materie» (1918), eines der ersten Lehrbücher der allgemeinen Relativitätstheorie. Später beschäftigte er sich mit der Theorie der linearen Darstellung von Lie'schen Gruppen und den gruppentheoretischen Aspekten der Quantenmechanik. George Pólya arbeitete über Analysis, analytische Zahlentheorie, mathematische Statistik und die Strategie zum Lösen mathematischer Probleme, Ferdinand Gonseth über Grundlagen und Philosophie der Mathematik. Weyls Nachfolger Heinz Hopf baute eine bedeutende Schule zur algebraischen Topologie auf. An der Universität Zürich lehrte Karl Rudolf Fueter über Zahlentheorie und Analysis im Bereich der Quaternionen, Andreas Speiser über Gruppentheorie sowie Geschichte und Philosophie der Mathematik und schliesslich Paul Finsler über Differentialgeometrie und Grundlagen der Mathematik. 1932 veranstalteten die Zürcher Mathematiker den 9. Internationalen Mathematikerkongress, der von 667 Teilnehmern aus 35 Ländern besucht wurde.

Unter den Berner Mathematikern genoss im 19. Jahrhundert vor allem Ludwig Schläfli, der wesentliche Beiträge zur algebraischen und mehrdimensionalen Geometrie sowie zur Analysis lieferte, wissenschaftliches Ansehen. Schläfli musste mangels einer gut bezahlten Stelle sein Einkommen als Liquidationsrechner bei der Schweizerischen National-Vorsichtskasse aufbessern. In Freiburg wirkten im 19. und 20. Jahrhundert Mathias Lerch und Michel Plancherel, der später Rektor der ETH wurde, in Genf Dmitry Mirimanoff und Henri Fehr, der Mitgründer und Herausgeber der seit 1899 in Genf erscheinenden Zeitschrift «L'Enseignement Mathématique».

Für den wissenschaftlichen Austausch der Gelehrten im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielten die Naturforschenden Gesellschaften (Gelehrte Gesellschaften) eine wichtige Rolle. Mathematische Vorträge wurden gelegentlich auf Anlässen der schon 1746 entstandenen zürcherischen Gesellschaft gehalten. Die 1815 ins Leben gerufene Schweizerische Naturforschende Gesellschaft (SNG) führte ab 1871 für einige Jahre auch eine Sektion für Mathematik. Mit dem Beschluss zur Herausgabe der Werke von Euler 1907 wuchs das Bedürfnis nach einer eigenen mathematischen Gesellschaft. Die 1910 unter dem Dach der SNG in Basel gegründete Schweizerische Mathematische Gesellschaft zählt 2008 ca. 500 Mitglieder, organisiert Fachtagungen und gibt ein wöchentliches Bulletin sowie die beiden Fachzeitschriften «Commentarii mathematici helvetici» (ab 1929) und «Elemente der Mathematik» (ab 1946/1975) heraus. Bereits 1901 erfolgte die Gründung der Vereinigung der Mathematiklehrer an schweizerischen Mittelschulen (heute Verein der Schweizerischen Mathematik- und Physiklehrpersonen, 2008 ca. 1000 Mitglieder). Der erste Präsident der 1905 gebildeten Vereinigung Schweizerischer Versicherungsmathematiker (seit 1996 Schweizerische Aktuarvereinigung) war der Basler Mathematiker und Nationalrat Hermann Kinkelin, der auch bei der Gründung der Schweizerischen Statistischen Gesellschaft mitwirkte (Statistik). Mit dem Auf- und Ausbau des schweizerischen Versicherungswesens im 19. und 20. Jahrhundert kam es zur Gründung zahlreicher Unternehmen und Einrichtungen, die Mathematikern ein neues Berufsfeld boten. In diesem Bereich schufen sich die Wissenschaftler Gottfried Georg Schaertlin, Christian Moser, Samuel Dumas und Arnold Bohren einen Namen.

Der Ausbau der Lehre und Forschung nach 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein massiver Ausbau von Wissenschaft und Forschung ein. Die Entwicklungen im Bereich der Mikroelektronik, Automatisierung, Telekommunikation und Informatik führten zum Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Gleichzeitig ermöglichte das neue Instrument des Rechenautomaten (Computer) völlig neue Grössenordnungen und Arbeitsformen beim Problemlösen mit numerischen Berechnungen. Der ständig wachsende Einsatz von Informatikmitteln, später ergänzt durch Datennetze (Internet), bewirkte eine immer stärkere Informatisierung der produktiven Arbeit und der Gesellschaft. Bereits 1948 erfolgte an der ETH unter Eduard Stiefel (1909-1978) die Gründung eines Instituts für angewandte Mathematik, an dem neuartige numerische Rechenmethoden, neue Programmiersprachen und ein eigener Rechenautomat (Ermeth) entwickelt wurden. Neue Gebiete sowie Institute in Informatik und Operations Research entstanden um 1970 aus der angewandten Mathematik heraus.

Während in der Astronomie schon von den alten Babyloniern mathematische Methoden zur Berechnung des Laufs der Gestirne angewendet worden waren, drangen diese seit der Antike (Archimedes) und in zunehmendem Masse seit der Neuzeit (Galileo Galilei, Isaac Newton) auch in die Physik ein. Viele Mathematiker des 18. und 19. Jahrhunderts vollbrachten ebenfalls grosse Leistungen auf dem Gebiete der Astronomie und der Physik (Euler, Joseph Louis de Lagrange, Carl Friedrich Gauss). Diese Entwicklung gipfelte schliesslich in der Institutionalisierung einer neuen Disziplin, der theoretischen Physik, deren Konzepte und Theorien ohne profunde mathematische Kenntnisse nicht mehr zu verstehen sind. Gleichzeitig wurden mathematische Verfahren auch in der Technik immer wichtiger. Heutzutage werden mathematische Methoden und Verfahren in beinahe allen Wissenschaften und Technikgebieten benutzt, so zum Beispiel die numerische Mathematik für Strömungsberechnungen, Satellitensteuerung und Wetterprognosen, das wissenschaftliche Rechnen zur computergestützten Simulation von komplexen Prozessen mit dem Ziel, aufwendige reale Experimente zu ersetzen, die mathematische Programmierung und Approximationstheorie zur effizienten Implementierung von Funktionen auf Computern und zur Gewinnung optimaler Problemlösungen, das Computer Aided Design (CAD) zum computergestützten Entwurf von Objekten, die Zahlentheorie zur Verschlüsselung und Codierung bei Datenübertragungen, die Wahrscheinlichkeitstheorie zur Risikoanalyse bei Versicherungen und Entwicklung neuer Instrumente in der Finanzwelt, die Statistik zur Auswertung von Daten in allen Bereichen oder die Geometrie zur Erklärung des Weltalls.

Dieser Bedeutungsgewinn schlug sich im sukzessiven Ausbau des Mathematikunterrichts an höheren Schulen, in der Entwicklung neuer Arbeitsgebiete in der Mathematik sowie — dank der Unterstützung des 1952 geschaffenen Nationalfonds — in der Erweiterung der Forschungseinrichtungen und Institute nieder. Zwischen 1945 und 2008 verfünffachte sich die Anzahl der Mathematikprofessuren an den schweizerischen Hochschulen. 1964 entstand an der ETH das von Beno Eckmann gegründete Mathematische Forschungsinstitut, das später von Armand Borel und Jürgen Moser geleitet wurde. Seit 1968 organisieren die Universitäten und Hochschulen der Westschweiz den Troisième cycle romand de mathématiques als Nachdiplomstudium für Doktoranden und promovierte Mathematiker. 1994 wurde das RiskLab an der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit den Schweizer Grossbanken (Forschungsschwerpunkt Finanzmathematik), 2002 das Centre Interfacultaire Bernoulli der ETH Lausanne und 2003 — im Zusammenhang mit der Bologna-Reform — die Zurich Graduate School in Mathematics gegründet. Am Internationalen Mathematikerkongress von 1994 in Zürich nahmen 2536, am 6. Internationalen Kongress für Industrielle und Angewandte Mathematik von 2007, der ebenfalls in Zürich stattfand, mehr als 3000 Wissenschaftler teil.

Einen hervorragenden wissenschaftlichen Ruf genossen im 20. Jahrhundert auch Paul Bernays (Logik und Grundlagen der Mathematik) sowie Walter Saxer (Versicherungsmathematik, Berater bei der AHV) an der ETH und Rolf Nevanlinna (komplexe Analysis) sowie Bartel Leendert van der Waerden (Algebra, algebraische Geometrie, Wissenschaftsgeschichte) an der Universität Zürich. Gleichermassen reputiert waren Alexander M. Ostrowski (Bewertungstheorie, numerische Analysis) sowie Martin Eichler (komplexe Analysis, quadratische Formen) in Basel, Hugo Hadwiger (algebraische Begründung der Mass- und Inhaltstheorie) in Bern, Georges de Rham (differenzierbare Mannigfaltigkeiten) in Lausanne und Michel Kervaire sowie André Häfliger (algebraische Topologie) in Genf.

Quellen und Literatur

  • J.H. Graf, Gesch. der Mathematik und der Naturwiss. in bern. Landen, 3 H., 1888-90
  • L. Isely, Histoire des sciences mathématiques dans la Suisse française, 1901
  • A. Speiser, Die Basler Mathematiker, 1939
  • E. Fueter, Gesch. der exakten Wiss. in der schweiz. Aufklärung 1680-1780, 1941
  • H. Zölly, Gesch. der geodät. Grundlagen für Karten und Vermessungen in der Schweiz, 1948
  • E.J. Walter, Die Pflege der exakten Wiss. (Astronomie, Mathematik, Kartenkunde, Physik und Chemie) im alten Zürich, 1951
  • E.J. Walter, Soziale Grundlagen der Entwicklung der Naturwiss. in der alten Schweiz, 1958
  • M. Plancherel, «Mathématiques et mathématiciens en Suisse (1850-1950)», in L'Enseignement mathématique, 2. Serie, Bd. 6, 1960, 194-218
  • J.J. Burckhardt, Die Mathematik an der Univ. Zürich 1916-1950 unter den Prof. R. Fueter, A. Speiser, P. Finsler, 1980
  • P.-D. Methée, Les mathématiques à l'Académie et à la Faculté des sciences de l'Université de Lausanne, 1991
  • Griech. Geist aus Basler Pressen, Ausstellungskat. Basel, 1992
  • G. Frei, U. Stammbach, Die Mathematiker an den Zürcher Hochschulen, 1994
  • S. Khouyibaba, Mathématiques et mathématiciens dans les universités de la Suisse romande de 1537 à 1937, Diss. Quebec, 1997, (Mikrofilm)
  • Das Kloster St. Gallen im MA, hg. von P. Ochsenbein, 1999
  • E. Neuenschwander, «Zur Historiographie der Mathematik in der Schweiz», in Archives Internationales d'Histoire des Sciences 49, 1999, 369-399, (mit Bibl.)
  • Aktuare in Helvetiens Landen, 2005
Weblinks

Zitiervorschlag

Erwin Neuenschwander: "Mathematik", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.03.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008274/2011-03-02/, konsultiert am 16.04.2024.