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Wüstungen

Als siedlungshistorischer und archäologischer Begriff bezeichnet das Wort verlassene ländliche, städtische oder gewerbliche Siedlungsplätze. Fassbare Zeugnisse solcher Wüstungen sind im Gelände Ruinen in unterschiedlichen Zerfallsstadien, auffallende Bodenformationen oder das Auftreten von Pflanzen, die typisch für Siedlungsnähe sind (verwilderte Gartengewächse, Obst- und Zierbäume, sogenannte Lägerflora in den Alpen), sowie in der schriftlichen und mündlichen Überlieferung Flur- und Ortsnamen, die auf eine einstige Siedlung hinweisen (z.B. Flurnamen mit dem Suffix -ingen, in den Alpen mit dem Wort «Heiden» gebildete Composita). Gelegentlich steht in Wüstungen die Kirche noch aufrecht (z.B. San Girolamo in der Wüstung Prada in der Gemeinde Bellinzona). Wenn in verlassenen Siedlungen noch einzelne Bauten benützt werden, spricht man von Teil- oder Halbwüstung. Zum Begriff Wüstung gesellt sich der Terminus Ödung, der nicht den einstigen Siedlungsplatz, sondern den aufgegebenen landwirtschaftlichen Nutzungsraum bezeichnet. Ausser Flurnamen, die auf einstigen Ackerbau schliessen lassen (Zelg), finden sich in Ödungen Spuren von Terrassierungen, Stützmauern, Wasserleitungen oder Bergbautätigkeiten. Vereinzelt haben sich in Ödungen auch alte Parzellengrenzen erhalten (z.B. Redde bei Tesserete). Mit der Preisgabe einer Siedlung war keineswegs zwingend die Entstehung einer Ödung verbunden. Häufig wurde der zur Wüstung gehörende Umschwung von einem anderen Standort aus weiter bewirtschaftet. Nicht unter den Begriff Wüstung fallen im wissenschaftlichen Sprachgebrauch aufgelassene Burgen und Klöster sowie vormittelalterliche Siedlungsplätze. In den mittelalterlichen Schriftquellen werden oft Siedlungen erwähnt, deren Standorte nicht mehr bekannt sind. Einen Sonderfall bilden sogenannte Fehlsiedlungen, die kurz nach ihrer Gründung, vielleicht noch in unfertigem Zustand, wieder verlassen werden. In der Schweiz trifft dieser Sachverhalt auf einige kleine Stadtwüstungen zu, bei denen es den Gründern offenbar nicht gelang, ausreichend Zuzüger zu gewinnen (z.B. Glanzenberg, Alt-Eschenbach LU). In der Rechtsgeschichte bezeichnet der Begriff Wüstung schliesslich die rituelle Voll- oder Teilzerstörung eines Hauses oder einer Siedlung als Strafmassnahme.

Zur Auflassung einer Siedlung führten mannigfache Ursachen. Landläufige und monokausale Erklärungen greifen oft zu kurz. So wird etwa der Einfluss der Pest auf Wüstungsvorgänge überschätzt. Auch Wilhelm Abels bekannte Theorie der spätmittelalterlichen Agrarkrise (Krise des Spätmittelalters) ist für die Entstehung von Wüstungen im Schweizer Raum kaum anwendbar, wie denn die Auflassung von Siedlungsplätzen keineswegs bloss auf Rezessionserscheinungen oder Katastrophen beruhte, sondern – vor allem im Mittelalter – eher auf Umstrukturierungen im Zuge von Wachstum und Aufschwung. Vom Frühmittelalter an kam es laufend zur Preisgabe von Siedlungsplätzen. Wenn innerhalb bestimmter Zeitabschnitte Siedlungen in grösserer Anzahl und Dichte aus den gleichen Ursachen aufgelassen werden, spricht man von Wüstungsperioden. Solche traten vom Hochmittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein in unregelmässigen Abständen auf.

Zu den wichtigsten Auslösern von Auflassungen zählten natürliche Vorgänge wie Veränderungen des Klimas oder die Verschlechterung landwirtschaftlich genutzter Böden. Erdbeben, Lawinen, Murgänge und andere Naturkatastrophen löschten mitunter ganze Siedlungen aus, wie zum Beispiel 1618 ein Bergsturz das damals bündnerische Plurs, doch leiteten die Überlebenden oft einen Neubeginn ein, eventuell unter Verlegung des Standorts wie zum Beispiel nach der Zerstörung Onoldswils (Gemeinde Oberdorf BL). Nachhaltige Zerstörungen und Verwüstungen durch Kriege traten in der Schweiz als Ursache von Wüstungen seltener auf als in anderen Teilen Europas. Die wenigen kriegsbedingten Stadtwüstungen in der Schweiz beruhten nicht nur auf der gewaltsamen Zerstörung an sich, sondern auf der Verhinderung eines Wiederaufbaus infolge territorialpolitischen Drucks (z.B. La Bonneville, Glanzenberg). Durch Krieg zerstörte oder wirtschaftlich nicht lebensfähige Städte existierten zum Teil bei Beibehaltung oder Verlegung des Standorts unter gleichem Namen als Dörfer weiter. Auf solche abgesunkenen Städte trifft der Begriff Wüstung nur bedingt zu (Gümmenen, Meienberg).

Archäologische Ausgrabung in Weesen-Rosengärten. Fotografie, 2007 (Kantonsarchäologie St. Gallen).
Archäologische Ausgrabung in Weesen-Rosengärten. Fotografie, 2007 (Kantonsarchäologie St. Gallen). […]

Zu wenig beachtet wird die Auflassung von Siedlungen als Folge von wirtschaftlichem und demografischem Wachstum. Im 13. und 14. Jahrhundert wurden – oft auf landesherrliche Weisung – Dörfer und Einzelhöfe verlassen, weil ihre Bewohner in nahe gelegene neu gegründete Städte zogen (z.B. Liestal), von wo aus sie ihr angestammtes Land weiter bewirtschafteten und gleichzeitig den Aufschwung des städtischen Gewerbes ermöglichten. Im 14. und 15. Jahrhundert wurden im Alpenraum die alten, oberhalb der Waldgrenze angelegten Alpstäfel verlassen, weil sich die Viehwirtschaft von der extensiven Schafhaltung auf die exportorientierte Rinder- und Pferdehaltung umstellte. Den dadurch erhöhten Bedarf an Weidefläche deckte die Rodung der Bergwälder, was die Verlegung der Alphütten an tiefere, besser zugängliche Standorte nach sich zog. Dabei spielten auch Klimaveränderungen (kältere Frühjahrsperioden) als weiterer Faktor eine Rolle (Kleine Eiszeit).

Das Bestehen gewerblicher Siedlungen hing von der Verfügbarkeit der Rohstoffe, der Nachfrage nach den Produkten und vom unternehmerischen Potenzial ab. So verwandelten sich zum Beispiel mit der Zerstörung und Aufhebung des Klosters Lützel in der Französischen Revolution im ganzen Lützeltal die Klosterbetriebe (Metall-, Glas-, Holz- und Ziegeleigewerbe) in Wüstungen. Bergbauwüstungen in schweizerischem Gebiet reichen bis ins Früh- und Hochmittelalter zurück. Die kurze Blütezeit des Bergbaus vom 15. bis ins 17. Jahrhundert hinterliess zahlreiche Wüstungen vor allem im Jura und im Alpenraum. Archäologisch schlecht bis gar nicht erforscht sind Wüstungen von wasserbetriebenen Gewerbeanlagen, namentlich von Getreidemühlen. An die abseits gelegenen kleinen Gewerbeplätze, an denen Holzkohle gebrannt oder Baumharz ausgesotten worden ist, erinnern heute meist nur noch sprechende Flurnamen wie Cholplatz, Charbonnière, Carbonera oder Harzbrenni.

Eine erste Wüstungsperiode ist in der Schweiz im 10. und 11. Jahrhundert  fassbar. Damals wurden Kleinsiedlungen aus dem Frühmittelalter aufgelassen bzw. zu grösseren Dorfanlagen zusammengefasst. Diese frühen Wüstungen sind schwer fassbar. Der Prozess als Ganzes ist aus der Entwicklung des schriftlich überlieferten Ortsnamenbestands zu erschliessen. Eine zweite Wüstungsperiode im Spätmittelalter war durch verschiedene Faktoren geprägt, durch die Umsiedlung von Dorfbewohnern in neu gegründete Städte, durch die Aufgabe von Siedlungsplätzen, die im Zuge des hochmittelalterlichen Landesausbaus auf marginalen, nun weitgehend erschöpften Böden angelegt worden waren, durch die Kriegszerstörung von Kleinstädten als Folge landesherrlicher Konkurrenzkonflikte und schliesslich durch die expandierende Umstrukturierung der alpinen Weide- und Milchwirtschaft. Eine dritte nachhaltige Wüstungsperiode brachte die kleineiszeitliche Klimaverschlechterung zwischen 1570 und 1640. Sie traf vor allem Siedlungen in Marginalzonen und erzwang in hoch gelegenen Alpentälern die Umwandlung von Dauer- in Temporärsiedlungen (z.B. Calfeisen- und Safiental). Abwanderungen führten zur Verödung ganzer Talabschnitte. Nur in Randzonen der Schweiz (Fricktal, Graubünden, Fürstbistum Basel) bildeten sich im 17. Jahrhundert auch als Folge des Dreissigjährigen Kriegs vereinzelt Wüstungen.

Wüstungsprozesse spielen sich in der Schweiz bis in die Gegenwart hinein ab. Seit dem frühen 19. Jahrhundert kam es, vor allem in Teilen des Alpenraums, zur Abwanderung in die Industriezentren und zur Auswanderung unter anderem nach Übersee, was zur Preisgabe ganzer Siedlungen führte, zum Beispiel im Tessin. Zudem bewirkte der Rückgang traditioneller Formen der Viehwirtschaft die Auflassung zahlreicher Alpstäfel und Maiensässe. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Er wird durch die Umnutzung leer stehender Bauten zu Zweitwohnungen gebremst.

Quellen und Literatur

  • R. Weiss, Häuser und Landschaften der Schweiz, 1959 (21973)
  • K. Wanner, Siedlungen, Kontinuität und Wüstungen im nördl. Kt. Zürich (9.-15. Jh.), 1984
  • HRG 5, 1583-86
  • W. Meyer et al., "Heidenhüttli": 25 Jahre archäolog. Wüstungsforschung im schweiz. Alpenraum, 1998
  • LexMA 9, 384-391
Weblinks

Zitiervorschlag

Werner Meyer: "Wüstungen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 27.11.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007954/2013-11-27/, konsultiert am 29.03.2024.