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Abwasser

Fäkalien und Abfall können mit Wasser aus Siedlungen fortgespült werden. Dazu braucht es eine leistungsfähige Wasserversorgung und eine Kanalisation. Im Gebiet der heutigen Schweiz sind Abwasseranlagen aus römischer Zeit bekannt. Überreste einer Gemeinschaftslatrine mit Schwemmkanalisation sind unter anderem in Martigny (Octodurus) erhalten, ein System von Abwasserleitungen ist in Vindonissa bekannt. Holzkanalisationen kamen bei archäologischen Ausgrabungen in Oberwinterthur (Vitudurum) und in Cuarny zum Vorschein und liessen sich auch in Augst (Augusta Raurica) nachweisen.

In spätmittelalterlichen Städten wurde das Abwasser auf verschiedenen Arten entsorgt: 1. durch Einleitung in Fäkaliengruben, in der Urkundensprache Ehgruben, 2. durch Ableitung entlang der Parzellengrenzen in sogenannten Ehgräben, 3. vereinzelt in gedeckten Abwasserkanälen (Dolen), 4. durch Versickerung auf der Hofstätte, 5. durch Ableitung in die «Runse» in der Gassenmitte (nur «lauteres Spülwasser»). Das Wasser wurde oft mehrfach genutzt, bevor es als Abwasser ausgeschüttet wurde. Die Stadtbäche dienten nicht zuletzt zum Spülen der Ehgräben und zur Bewässerung von Wiesen. Mit dem Ausbau der Wasserversorgung in der frühen Neuzeit verflüssigten sich die Fäkalstoffe. Deshalb riet beispielsweise der Luzerner Stadtarzt Renward Cysat, das Abwasser aus Fäkaliengruben einfach versickern zu lassen. Damit waren aber die Angehörigen der städtischen Unter- und Mittelschichten, die ihr Trinkwasser noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus Ziehbrunnen schöpften, zunehmend gesundheitlich gefährdet.

Lokal begrenzte Gewässerverunreinigungen, unter anderem durch die Gerberei, gab es bereits im 15. Jahrhundert. In Konstanz ist zum Beispiel der Teichfaden, eine Wasserpflanze, die auf stark verschmutzte Gewässer hinweist, in spätmittelalterlichen Sedimenten nachgewiesen. In Städten am Flusslauf, wie zum Beispiel in Zürich, lagen die schmutzverursachenden Gewerbe deshalb in der Regel flussabwärts. Die sanitären Einrichtungen veränderten sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum. Infolge einer dramatischen Bevölkerungsverdichtung in den Innenstädten geriet die Stadtentsorgung dann in eine Krise. Oberschichten zogen in die Villenvororte, während Unterschichten nachrückten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verdreifachte sich zum Beispiel die Wohnbevölkerung der Zürcher Altstadt, ohne dass das Baugebiet eine Erweiterung erfahren hätte. Ärzte, Stadtplaner und Architekten forderten eine «Kloakenreform». Als Grund für diese Stadtsanierungen sieht die unkritische Fachliteratur Cholera- und Typhusepidemien. Zweifellos wirkte die Angst vor Seuchen als auslösendes Moment für Stadtsanierungen, zumal die Wissenschaft glaubte, Cholera und Typhus würden von einem Gift («Kontagium») verursacht, das sich im Boden beim Abbau von Fäkalien bildete. Darüber hinaus war die Kloakenreform aber vor allem ein Teil der hygienischen Revolution des 19. Jahrhunderts. Infolge veränderter Schamgefühle empfand man die Harn- und Kotentleerung in der Öffentlichkeit als unschicklich. Neue Vorstellungen von Hygiene und die Renaissance des Vollbads liessen zudem den Wasserbedarf steigen.

Leistungsfähige Wasserversorgungen konnten nur in Verbindung mit einer adäquaten Entsorgungstechnik funktionieren. Der Bau solcher Netzwerke gehörte zum Modernisierungsprozess. Für die Schweiz nicht zu unterschätzen ist der diesbezügliche Einfluss englischer Sozialreformer wie Edwin Chadwick, die mit Sanierungen von Unterschichtsquartieren die Arbeiterschaft befrieden wollten. An Chadwick schliessen die Konzepte des Ingenieurs John Roe an (1842), der als Begründer der modernen Kanalisationstechnik gilt. Trotz der Angst vor Seuchen machten sich auch Widerstände gegen die Modernisierung der Abwasserentsorgung bemerkbar: Hauseigentümer scheuten die Kosten, und die Bürger wollten ihre Fäkalien, welche sie selber als Dünger (Düngung) brauchten oder verkauften, nicht an die Stadtverwaltungen abtreten. Die ersten Stadtsanierungen in der Schweiz orientierten sich an englischen, französischen und allmählich auch an deutschen Beispielen. Die englische Schwemmkanalisation setzte sich erst Ende des 19. Jahrhunderts durch. Alternative Systeme waren unter anderem: 1. das Pariser Kübelsystem, d.h. die Ableitung der Abwasser durch eine Kanalisation, wobei die festen Fäkalstoffe in einem auswechselbaren Kübel mit Siebeinsatz verblieben, 2. die Abfuhr aller Fäkalien («Heidelberger Tonnensystem»), 3. die Einleitung von in Senkgruben vorgeklärtem Abwasser in eine Kanalisation («Verbessertes Grubensystem»), 4. die Trockenkompostierung («Erdklosett»).

Der offene Birsig in Basel zwischen Pfluggasse und Barfüsserplatz. Fotografie von Varady & Cie., um 1865 (Staatsarchiv Basel-Stadt, NEG A 4273 f).
Der offene Birsig in Basel zwischen Pfluggasse und Barfüsserplatz. Fotografie von Varady & Cie., um 1865 (Staatsarchiv Basel-Stadt, NEG A 4273 f). […]

Unter dem Eindruck von Cholera- und Typhusepidemien nahm die Stadt Zürich 1867 den Bau eines Kanalisationsnetzes in die Hand und richtete gleichzeitig das Pariser Kübelsystem ein. Unmittelbar danach wurde die zentrale Wasserversorgung eingeführt. In Genf und in Basel gab es schon in der frühen Neuzeit gedeckte Abwasserkanäle. Als Basels Cloaca maxima diente der offene Birsiglauf. 1876 bzw. 1881 lehnten die Basler Stimmbürger ein Kanalisationsgesetz und die Sanierung des Birsig ab. Erst 1896 bewilligte das Volk die Einführung der Kanalisation. Basel verkörpert in dieser Zeit das Beispiel einer unkontrollierten Entwicklung, zumal dem teils privaten Ausbau der Wasserversorgung keine Anpassung der Entsorgung folgte. In Lausanne diskutierte man die Entsorgung nach der Choleraepidemie von 1868. Eine Erweiterung der Kanalisation nahm die Stadt 1891 bzw. 1902 an die Hand. Mittel- und Kleinstädte sowie ländliche Siedlungen erhielten erst im 20. Jahrhundert Kanalisationen, Chur zum Beispiel im Jahr 1907. Die Stadt Winterthur löste erst 1950 das «Verbesserte Grubensystem» von 1884 ab.

In Ballungszentren wie London oder Paris wurde die Gewässerverschmutzung schon im 19. Jahrhundert zum öffentlichen Ärgernis und löste erste Massnahmen aus: Nach einer mechanischen Vorklärung wurden die Abwasser auf landwirtschaftlich genutzten Feldern verrieselt. Englische und amerikanische Ingenieure erstellten kurz nach 1900 die ersten funktionstüchtigen mechanisch-biologischen Klärwerke. In der Schweiz erfolgte die Rezeption der Abwasserreinigung zögernd. 1879 verwarf die Gemeindeversammlung der Stadt Zürich ein Projekt für die Verrieselung der städtischen Abwasser. Bereits 1917 baute jedoch St. Gallen die erste mechanisch-biologische Kläranlage in der Schweiz. Zürich eliminierte 1925 seine defizitäre Kübelabfuhr, verzichtete aber im neuen Klärwerk Werdhölzli auf die ursprünglich geplante biologische Reinigungsstufe. Negativ wirkte sich hierzulande die Entwicklung in Deutschland aus. Der NS-Staat blockierte die Entwicklung der biologischen Abwasserreinigung, da er aus ideologischen Gründen an der Rieselfelderwirtschaft festhielt. Impulse für Innovationen konnten so nur noch aus angelsächsischen Ländern kommen. Aufgrund einer Anregung des Schweizerischen Fischereivereins gründete die ETH Zürich 1936 eine Beratungsstelle für Abwasserreinigung und Trinkwasserversorgung, seit 1945 Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz an der ETH (Eawag).

Allzulange liessen konkrete Verbesserungen des Gewässerschutzes auf sich warten. Die Bundesverfassung wurde 1953 mit einem Gewässerschutzartikel ergänzt; das dazugehörende erste Gewässerschutzgesetz trat 1957 in Kraft. In den 1960er Jahren litten zahlreiche stehende Gewässer unter der Überdüngung mit Phosphaten, und wegen starker Verschmutzung mussten die Behörden viele natürliche Gewässer mit Badeverboten belegen (Umwelt). Nach dem Erlass des zweiten Gewässerschutzgesetzes von 1971 machte der Bau von kommunalen Abwasserreinigungsanlagen Fortschritte. Standen 1964 in der Schweiz lediglich 67 mechanisch-biologische Kläranlagen in Betrieb, so zählte man 1983 901 Anlagen. Der Anteil der schweizerischen Bevölkerung, der an Abwasserreinigungsanlagen angeschlossen ist, erhöhte sich zwischen 1970 und 1990 von etwa 30% auf 90%. Bis 1992 investierten Bund, Kantone und Gemeinden rund 35 Mrd. Franken in den Gewässerschutz. Nicht zuletzt wegen dieser hohen Kosten versucht man heute von kurativen Massnahmen loszukommen und den präventiven Gewässerschutz zu fördern. In diesem Sinne untersagt zum Beispiel die auf dem dritten Gewässerschutzgesetz von 1984 basierende Stoffverordnung von 1986, schädliche Substanzen wie phosphathaltige Textilwaschmittel in die Kanalisation einzuleiten, und Industriebetriebe müssen ihre Abwasser vorbehandeln. Zum zeitgemässen ganzheitlichen Gewässerschutz, der im 1992 erneut revidierten Gewässerschutzgesetz Eingang fand, gehört neben der Festlegung von Restwassermengen auch der Landschaftsschutz (u.a. Renaturierung von Wasserläufen), damit Fauna und Flora in ihrer Vielfalt erhalten bleiben.

Quellen und Literatur

  • G. Heller, "Propre en ordre", 1979, 51-55
  • M. Illi, Von der Schîssgruob zur modernen Stadtentwässerung, 1987
  • Schriftenreihe Umwelt, 1990- (Fortsetzung von "Schriftenreihe Umweltschutz")
  • P. Münch, Stadthygiene im 19. und 20. Jh., 1990
Weblinks

Zitiervorschlag

Martin Illi: "Abwasser", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 31.05.2002. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007861/2002-05-31/, konsultiert am 29.03.2024.