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Jugoslawien

Der ehemalige Vielvölkerstaat Jugoslawien setzte sich aus Gebieten zusammen, die bis zu dessen Gründung unterschiedliche historische Entwicklungen durchliefen. Vom Ende des 17. Jahrhunderts an waren es in erster Linie der Habsburgerstaat bzw. Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich, die sich die Gebiete des späteren Jugoslawiens gegenseitig streitig machten bzw. untereinander aufteilten. Die Idee eines gemeinsamen Staats aller Südslawen, der Jugoslawismus, gewann im 19. Jahrhundert an Bedeutung. Nach dem Ersten Weltkrieg bildete sich das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, das von Serbien dominiert wurde und 1929 offiziell den Namen Jugoslawien annahm. 1941 wurde Jugoslawien von Deutschland erobert und zerschlagen. Der Befreiung, die einer vom kommunistischen Partisanenführer Tito (Josip Broz) gebildeten Allianz aller linken antifaschistischen Kräfte weitgehend aus eigener Kraft gelang, verdankte Jugoslawien seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion; es blieb als kommunistischer Staat dem Warschauer Pakt fern. Am 29. November 1945 wurde die Föderative Volksrepublik Jugoslawien ausgerufen, die aus sechs Republiken bestand (Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro). Nach Titos Tod 1980 setzte der Zerfall des Staatsgebildes ein. 1991 erklärten sich Slowenien, Kroatien und Mazedonien für unabhängig, 1992 Bosnien-Herzegowina. Die 1992 proklamierte Bundesrepublik Jugoslawien bezeichnete sich ab 2003 als Serbien und Montenegro, bis sich 2006 Montenegro aus dem Staatenbund mit Serbien löste und sich beide Staaten als unabhängige Republiken konstituierten. 2008 verkündete auch Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien.

Zwischenstaatliche Beziehungen

Am 4. März 1919 anerkannte der Bundesrat das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Ab 1925 war der schweizerische Gesandte in Bukarest gleichzeitig in Belgrad akkreditiert. Diese einzige Vertretung auf dem Balkan genügte jedoch nicht. 1940 wurde eine selbstständige Gesandtschaft in Belgrad eingerichtet. 1920 erfolgte die Eröffnung eines Konsulats in Zagreb (seit 1970 Generalkonsulat). Das Konsulat des Königreichs bzw. der diesem nachfolgenden Republiken in Basel besteht seit 1925. Obwohl die Beziehungen zwischen der Schweiz und Jugoslawien während des Zweiten Weltkriegs keine Unterbrechung erfuhren, wurde die Belgrader Gesandtschaft 1941 geschlossen und in eine Konsularkanzlei umgewandelt. Während dieser Zeit vertrat die Schweiz das jugoslawische Schutzmachtmandat in verschiedenen Staaten, darunter Deutschland, Finnland und Italien. 1945 errichtete sie eine Gesandtschaft in Belgrad. Mit der Ernennung eines neuen Schweizer Gesandten am 4. Mai 1945 anerkannte die Schweiz die Regierung Titos noch vor dem Abzug der Roten Armee aus Jugoslawien und der Ausrufung der Volksrepublik. Die Internierung von jugoslawischen Partisanen in der Schweiz stellte nach Kriegsende ein Problem in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten dar, das mit der Repatriierung der Betroffenen rasch gelöst wurde.

1957 erfuhr die Gesandtschaft in Belgrad eine Aufwertung zur Botschaft. Seit 1970 ist der Schweizer Botschafter in Belgrad auch in Albanien akkreditiert. Die Schweiz anerkannte die Bundesrepublik Jugoslawien am 30. September 1996. Die Namensänderung in Serbien und Montenegro nahm sie am 4. Februar 2003 zur Kenntnis.

Wanderungsbewegungen

1926-1940 schwankte die Zahl der Schweizer im Königreich zwischen 350 und 400 Personen. Mit Kriegsbeginn reduzierte sich die Schweizer Kolonie auf ca. 200 Personen. Nach Kriegsende ging die Anzahl bedingt durch Einbürgerungen noch einmal auf ca. 140 zurück, gegen Ende der 1950er Jahre stieg sie wieder etwas an auf 180. 1989 umfasste die Schweizer Kolonie in Jugoslawien 340 Personen. Von den rund 1500 Auslandschweizern, die 2004 in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien lebten, waren zwei Drittel Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit.

Wohnbevölkerung aus Jugoslawien in der Schweiz 1930-2010
Wohnbevölkerung aus Jugoslawien in der Schweiz 1930-2010 […]

1930 befanden sich 1081 Jugoslawen in der Schweiz. Die Zahl stieg infolge der Internierung jugoslawischer Partisanen bis Kriegsende auf rund 5000, von denen ca. 700, meist königstreue Tschetniks, nach 1945 in der Schweiz blieben. Von den 1960er Jahren an nahm die Zahl der jugoslawischen Gastarbeiter zu. 1990 stellten die Jugoslawen das zweitgrösste Ausländerkontingent in der Schweiz (ca. 200'000). Ende 2003 lebten rund 348'000 Personen aus der ehemaligen Volksrepublik in der Schweiz, was gut 23% der ausländischen Wohnbevölkerung ausmachte. 200'000 von ihnen stammten aus Serbien oder Montenegro (inklusive Kosovo). Von 1983 an erhöhte sich auch die Anzahl der Asylgesuche von Personen aus der Volks- bzw. Bundesrepublik Jugoslawien, wobei es sich bei den Gesuchstellern ab 1992 vor allem um Kosovo-Albaner handelte (1983 74; 1989 1365; 1993 5291; 1999 30'124; 2000 3838; 2005 1506). Deren Zahl stieg vor allem in den späten 1990er Jahren infolge der ethnischen Säuberungen unter Slobodan Milošević im Kosovo sprunghaft an, nahm dann aber ebenso rasch wieder ab. Für Staatsangehörige der Bundesrepublik Jugoslawien bzw. ihrer Nachfolgestaaten bestand 1992-2009 eine Visumspflicht. In der Schweizer Bevölkerung hat die Anwesenheit von Personen aus Jugoslawien in den 1990er Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu heftigen, von fremdenfeindlichen Untertönen nicht freien Kontroversen geführt.

Wirtschaftliche Beziehungen

1919 hatte die Schweiz vor allem Interesse am Export einheimischer Industriegüter und am Import landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus dem Königreich. Obwohl dieses bereits 1927 den Wunsch geäussert hatte, einen Handelsvertrag abzuschliessen, unterzeichneten die beiden Staaten erst 1937 ein entsprechendes Abkommen. 1938 war der Handelsverkehr zwischen den beiden Staaten bescheiden: Die Schweiz importierte für 11,1 Mio. Franken Waren aus Jugoslawien und exportierte für 10,9 Mio. Franken. Während des Zweiten Weltkriegs waren die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Staaten unterbrochen. Im April 1945 besuchte eine jugoslawische Handelsmission die Schweiz, um für den Wiederaufbau benötigte Güter einzukaufen. Ein Warenaustausch- und Zahlungsabkommen wurde jedoch erst 1946 unterschrieben. Der Bruch zwischen Stalin und Tito im Sommer 1948 leitete eine Öffnung Jugoslawiens gegenüber dem Westen ein, welcher der Volksrepublik fortan umfangreiche Finanzhilfe gewährte. Im Herbst 1948 unterzeichneten Jugoslawien und die Schweiz einen Handelsvertrag, der an ein Abkommen zur Entschädigung der von Verstaatlichungen betroffenen Schweizer Bürgern und Firmen gebunden war.

Die Schweiz importierte 1948 Waren im Wert von 33,9 Mio., 1953 für 24,8 Mio. und 1989 für 176,5 Mio. Franken. Der Export belief sich jeweils auf 38 Mio., 30,6 Mio. und 580,6 Mio. Franken. Ende der 1970er Jahre erreichten die wirtschaftlichen Beziehungen einen Höhepunkt. Wichtigste Exportgüter stellten Chemikalien, Maschinen und Elektronik dar, importiert wurden vor allem Textilien und Schuhe. Ab 1992 unterstand der jugoslawisch-schweizerische Warenverkehr den wirtschaftlichen Sanktionen der UNO gegenüber der Volks- bzw. Bundesrepublik Jugoslawien, was zu einer Reduktion der Exporte nach Jugoslawien führte. Nach dem Abschluss des Abkommens von Dayton (Ohio) Ende 1995 wurden die Wirtschaftsmassnahmen aufgehoben. 1995 importierte die Schweiz für 0,01 Mio. Franken Waren und exportierte für 26 Mio. Franken. Im Jahr 2000 belief sich der Import auf 14,9 Mio. Franken, der Export auf 111,7 Mio. Franken. Der Sturz des Milošević-Regimes 2000 ermöglichte die Aufhebung der Boykottmassnahmen, die 1998 von der internationalen Gemeinschaft wegen der ethnischen Säuberungen im Kosovo ergriffen worden waren; 2002 trat ein bilaterales Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Jugoslawien bzw. Serbien und Montenegro in Kraft. Aus Jugoslawien wurden 2002 Güter für 17,3 Mio. Franken importiert und für 151 Mio. Franken exportiert (hauptsächlich landwirtschaftliche, pharmazeutische und chemische Produkte sowie Metallwaren und Maschinen).

Kulturelle Bande und humanitäre Hilfe

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs befanden sich verschiedene schweizerische Ärztemissionen in den Gebieten des zukünftigen Königreichs. Nach 1945 entwickelte sich in Form von Studienaufenthalten, Vorträgen und Kongressbesuchen ein reger Kontakt zwischen jugoslawischen und Schweizer Medizinern. Ebenfalls nach 1945 wurden über die Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten in Jugoslawien verschiedene Hilfsaktionen für die Zivilbevölkerung unternommen. Die Verhaftung des Leiters der Spende wegen Spionageverdachts verschlechterte zwischenzeitlich das Verhältnis zwischen den beiden Staaten. Der Versuch Jugoslawiens, nach dem Kominformkonflikt ein drittes Sozialismusmodell zu entwickeln, und seine Rolle in der Bewegung der Blockfreien trugen ihm Sympathien in der Bevölkerung und bei den Behörden der Schweiz ein. Insbesondere die mit jugoslawischen Gesellschaftskritikern wie der Gruppe um die Zeitschrift "Praxis" in engem Kontakt stehenden Theoretiker der schweizerischen Linke massen dem jugoslawischen Konzept der gesellschaftlichen Selbstverwaltung, das unter anderem eine Demokratisierung des ganzen Wirtschaftsbereichs einschloss, in den Programmdiskussionen der 1970er und 1980er Jahre hohe Bedeutung bei. Bis 2010 war die Selbstverwaltung eine der Richtlinien im Parteiprogramm der SPS.

1983 beteiligte sich die Schweiz mit 90 Mio. Franken an einer internationalen Hilfsaktion für Jugoslawien. Während der Jugoslawienkriege unterstützte das Schweizerische Katastrophenhilfswerk den Bau von Flüchtlingsunterkünften und Projekte zur Renovation von Sozialeinrichtungen in Montenegro. Ab 1995 leistete die Schweiz humanitäre Hilfe in der Bundesrepublik Jugoslawien. 1999 beschloss der Bundesrat die Beteiligung der Schweiz an der Kosovo-Friedenstruppe (KFOR) der Nato. Die Swisscoy (Swiss company) besteht aus bis zu 220 Freiwilligen. Die Einheit ist im Grossraum Prizren stationiert. Dieser erste grössere Einsatz bewaffneter schweizerischer Armeeangehöriger im Ausland in der Geschichte des Bundesstaats wurde von der nationalkonservativen Rechten und der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz heftig kritisiert.

Plakat zu Andrea Štakas Film Das Fräulein, Schweiz, 2006 (Look Now! Filmverleih).
Plakat zu Andrea Štakas Film Das Fräulein, Schweiz, 2006 (Look Now! Filmverleih). […]

Im kulturellen Bereich förderte die Stiftung Pro Helvetia nach 1945 mittels Beiträgen den kulturellen Austausch. In Zürich wurden ab den 1960er Jahren Kontakte zu jugoslawischen Kreisen der Naivmalerei geknüpft. Auch sportliche Treffen fanden vor allem über Alpinistenclubs in der Teilrepublik Slowenien statt. Ab 1995 wurden die während der Kriege brach liegenden kulturellen Beziehungen wieder aufgebaut. Ausstellungen ("Le Monde de l'Ex-libris", Félix Vallotton) wurden in Belgrad organisiert; die ETH Lausanne und die Universität Belgrad verstärkten ihre Zusammenarbeit. Die Schweiz unterzeichnete 2001 eine offizielle Absichtserklärung zur Mithilfe an der Reform des jugoslawischen Aussenministeriums. Die Zusammenarbeit im Bereich der institutionellen Reform betraf auch die jugoslawische Justiz, das Bildungs- und Gesundheitswesen, die Sozialdienste und die Medien.

Quellen und Literatur

  • BAR, Unterlagen EDA
  • M.-C. Ziegler, Les réfugiés yougoslaves, 1964
  • Z. Löwenthal, «Beitr. zur Gesch. der schweiz.-jugoslaw. medizin. Beziehungen», in Aktuelle Probleme aus der Gesch. der Medizin, 1966, 452-460
  • H. Keller, Die polit., wirtschaftl. und kulturellen Kontakte zwischen der Schweiz und Jugoslawien, 1981
  • H. Klarer, Schweiz. Praxis der völkerrechtl. Anerkennung, 1981
  • C. Graf, P. Maurer, «Die Schweiz und der Kalte Krieg 1945-50», in SQ 11, 1985, 5-82
  • P. Bulliard, «Les relations économiques entre la Suisse et l'Europe orientale au sortir de la Deuxième Guerre mondiale», in SQ 21, 1995, 93-144
  • T. Lengsfeld, Öffentl. Meinung und Flüchtlinge in der Schweiz, Liz. Univ. Bern, 1997
  • M. Meier, Das Engagement der Schweiz in den Konflikten im ehem. Jugoslawien, 2005

Zitiervorschlag

Therese Steffen Gerber: "Jugoslawien", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.05.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003360/2015-05-05/, konsultiert am 17.04.2024.